In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: „die Geldflüsse im Wirecard-Skandal“ – mit Redakteur Thomas Steinmann, der bei Capital über den S kandal berichtet.
Bislang hieß es, dass die fehlenden 1,9 Mrd. Euro in Wirecards Bilanzen vermutlich gar nicht existierten. Warum gibt es jetzt Zweifel daran?
Nach Berichten von SZ, WDR und NDR gibt es neue Dokumente, die bislang unbekannte Geldflüsse in dunkle Kanäle belegen sollen. Demnach sollen mithilfe der konzerneigenen Wirecard Bank deutlich höhere Summen über Offshore-Konstruktionen aus dem Unternehmen geleitet worden sein als bisher bekannt. Dabei soll es um mehr als 1 Mrd. Euro gehen. Daher werfen die Berichte die Frage auf, ob das Geschäft mit Drittpartnern in Asien – mit dem Wirecard angeblich Milliarden verdient haben will – nicht doch existiert hat. Demnach hätten die 1,9 Mrd. Euro aus dem sogenannten TPA-Geschäft, bei dem Wirecard aufgrund fehlender Lizenzen in bestimmten Ländern mithilfe von zwischengeschalteten Partnern Transaktionen für Drittkunden abgewickelt haben will, nicht auf Treuhandkonten in Asien gelegen, weil es abgezapft worden sei. Diese Lesart widerspricht den bisherigen Erkenntnissen, wonach das TPA-Geschäft in Asien praktisch nicht existent war und die Bilanz von Wirecard jahrelang durch ausgeklügelte Luft- und Kreislaufbuchungen aufgebläht wurde.
Wie begründet sind diese Zweifel?
Nach der Insolvenz von Wirecard im Juni 2020 haben verschiedene Experten das ominöse TPA-Geschäft in Asien durchleuchtet. Im Auftrag von Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat die frühere Compliance-Abteilung von Wirecard geprüft, ob die Geschäftspartner und Umsätze tatsächlich existierten . Darüber hinaus liegt auch ein Sonderbericht der Anwaltskanzlei Gibson Dunn vor, die die Geldflüsse der Wirecard Bank untersucht hat. Beide Berichte kommen zu dem Schluss, dass es kein nennenswertes reales TPA-Geschäft gegeben habe. Dafür spricht auch, dass sich nach der Pleite von Wirecard kein einziger Geschäftspartner aus Asien gemeldet hat, der Ansprüche geltend machte – so steht es jedenfalls in dem Bericht für den Insolvenzverwalter. Und last but not least: Auch ein bayerischer Finanzbeamter, der als Betriebsprüfer Einblick in das Innenleben des Konzerns hatte, hat schon 2019 erhebliche Zweifel an der offiziellen Darstellung des Konzerns und an den angeblichen Milliardenerlösen geäußert . Kurzum: Nach heutigem Stand ist es unwahrscheinlich, dass Wirecard über ein florierendes TPA-Geschäft in Asien verfügte – jedenfalls nicht in der behaupteten Form und mit den behaupteten Erlösen.
Was könnte dann hinter den jetzt bekannt gewordenen Geldflüssen stecken?
Wir müssen genau trennen: Auch wenn das angebliche Milliardenvermögen in Asien nicht existierte, ist es möglich, dass tatsächlich noch mehr Geld aus dem Konzern herausgezogen wurde als bisher bekannt. Wirecard hat im Laufe der Zeit viel frisches Geld von Banken und Investoren aufgenommen: 2019 stellte etwa ein Bankenkonsortium um die Commerzbank einen Kredit von 1,75 Mrd. Euro bereit, hinzu kamen allein in jenem Jahr Anleihen von fast 1,5 Mrd. Euro. Zwar ist inzwischen bekannt, dass das Unternehmen in seinem Kerngeschäft – also dem mit realen Kunden wie beispielsweise Aldi – jahrelang Geld verbrannte. Aber das Geld, das laut den Berichten von SZ, WDR und NDR an Offshorefirmen in der Karibik oder in Hongkong floss, könnte auch aus anderen Erlösquellen stammen als aus dem TPA-Geschäft. Möglicherweise könnten auch kriminellen Gruppen oder andere Kreise, die Wert auf Diskretion legen, über Schattenstrukturen bei Wirecard Geld gewaschen haben – eine These, die Wirecard-Kritiker schon lange verfolgen und die etwa auch Ermittlungsbehörden in den USA bekannt ist. Tatsache ist jedenfalls, dass die Konzernkasse bei der Insolvenz praktisch leer war.
Was ändern die neuen Erkenntnisse für Ex-Wirecard-CEO Markus Braun?
Die Verteidigung von Ex-Wirecard-Chef Braun ist offenbar davon überzeugt, dass es das TPA-Geschäft und die Erlöse daraus gegeben habe. Könnten Brauns Anwälte das belegen, dürfte das die Lage in den laufenden Ermittlungen gravierend verändern. Denn bislang geht die Staatsanwaltschaft München I davon aus, dass das angebliche Milliarden-Treuhandvermögen von Wirecard in Asien auf Luftbuchungen beruhe – und dass Braun nicht nur davon gewusst habe, sondern der Anführer einer kriminellen Bande gewesen sei. Diese Lesart wird gestützt durch die Aussagen eines früheren Wirecard-Topmanagers, der als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft dient. Dessen Aussagen zweifeln die Anwälte von Konzernchef Braun massiv an. Sie stützen ihre Verteidigung auf die Argumentation, dass die Erträge aus dem TPA-Geschäft gestohlen worden seien – von dem für das Asiengeschäft zuständigen und heute flüchtigen Wirecard-Vorstand Jan Marsalek und einer Reihe von Unterstützern hinter dem Rücken von Braun. Nach dieser Lesart wäre der Ex-Konzernchef nicht der Bandenführer, sondern selbst Opfer des Betrugs – so wie es Braun Ende 2020 bei seinen Vernehmungen den Staatsanwälten beteuert hat. Für die juristische Aufarbeitung des Skandals wäre das ein entscheidender Unterschied.
Wie geht es bei den Ermittlungen jetzt weiter?
Die Berichte über bisher unbekannte Geldflüsse kommen zu einem interessanten Zeitpunkt: In Kürze entscheidet das Oberlandesgericht München darüber, ob Braun weiter in Untersuchungshaft bleiben muss. Der Ex-Konzernchef sitzt seit Juli 2020 in U-Haft, eigentlich wird für das kommende Frühjahr mit einer Anklage gerechnet, bei einer Verurteilung wegen bandenmäßiger Betrugs in Milliardenhöhe, Bilanzfälschung und Marktmanipulation drohen ihm mehr als zehn Jahre Gefängnis. Sollte es aber neue, belastbare Erkenntnisse über die Wirecard-Geschäfte in Asien und weitere Geldabflüsse an eine Clique um Marsalek geben, müssten die Ermittler den Fall womöglich neu aufrollen. Dies würde viele Monate dauern, wenn nicht sogar Jahre. In diesem Fall könnte zwischenzeitlich die Untersuchungshaft für Braun aufgehoben werden. Die spannende Frage ist nun, was seine Verteidiger in der Hand haben. Es müssten jedenfalls Beweise sein, die bei den bisher bekannten Prüfungen zum TPA-Geschäft und der Rolle der Wirecard Bank bei dubiosen Transaktionen und Krediten keine Rolle gespielt haben. Und sie müssten belegen, dass CEO Braun von diesen Geldflüssen tatsächlich nichts gewusst hat.
Ex-Vorstand Marsalek ist weiterhin untergetaucht. Wie ist hier der Stand?
Bislang ist es weder Interpol noch den bayerischen Zielfahndern gelungen, Marsalek aufzuspüren. Die meisten Experten vermuten ihn in Russland, möglicherweise unter der Obhut dortiger Geheimdienste. Wir wissen jedenfalls, dass Marsalek jahrelang enge Kontakte mit russischen Sicherheitskreisen unterhalten hat – aber auch zu diversen halbseidenen Figuren wie dem amerikanischen „Pornobaron“ Hamid „Ray“ Akhavan , der Kunde der Wirecard Bank war und in diesem Jahr in den USA wegen Bankbetrugs verurteilt wurde oder zu dem ukrainischen Oligarchen Dmitri Firtasch , der von den USA gejagt wird und der auf Marsaleks Betreiben hin zu einem Großkunden der konzerneigenen Bank wurde. Wenn die These zutrifft, dass über den Wirecard-Konzern in großem Stil schmutziges Geld gewaschen wurde, dann wären das Unternehmen und Marsalek selbst auch für die Sicherheitsbehörden anderer Länder von großem Interesse gewesen – nicht nur für die Russen. Die Hinweise auf bisher unbekannte Zahlungsströme erinnern uns jedenfalls daran, dass im Wirecard-Krimi noch sehr viele Fragen ungeklärt sind.
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