Die Arbeit von Betriebsprüfern spielt sich gewöhnlich im Verborgenen ab. Wenn sich die Spezialisten der Finanzverwaltung die Steuerdaten und Konten von Firmen vornehmen, tun sie dies stets in äußerst diskreter Weise. Auch Außenprüfungen bei bekannten Unternehmen werden deshalb so gut wie nie öffentlich bekannt. Es regiert das Steuergeheimnis. Und das ist in Deutschland heilig.
So war es auch bei Wirecard, dem Zahlungsdienstleister aus der Nähe von München, der im Juni Pleite ging und heute für den größten Bilanzfälschungsskandal der deutschen Geschichte steht. Schon vor Jahren begannen Betriebsprüfer, sich sehr intensiv für den Konzern und seine Geschäfte zu interessieren. Zuletzt bis Juni 2020 durchleuchteten Prüfer des bayerischen Landesamtes für Steuern zusammen mit dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Geschäftsjahre 2010 bis 2015.
Was die Prüfer bei ihren Ermittlungen zu Tage förderten, wirft ein ganz neues Licht auf die Rolle der Behörden im Wirecard-Skandal. Wie Recherchen von Capital und „Stern“ zeigen, schlugen die Steuerspezialisten früher als andere Alarm. Andere Behörden ignorierten geflissentlich die wiederholten Betrugsvorwürfe gegen Wirecard, die vor allem die britische „Financial Times“ (FT) veröffentlichte. Die Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) unterstellte Finanzaufsicht Bafin stellte sich mit einem zeitweisen Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien sogar schützend vor den Dax-Konzern. Dagegen nahmen die Betriebsprüfer in Bayern die Vorwürfe ernst, untersuchten in aller Stille Indizien für mögliche krumme Deals – und wurden dabei fündig.
Dabei ging es etwa um Überweisungen an Briefkastenfirmen bei Firmenübernahmen, von denen Personen aus dem Wirecard-Umfeld profitierten. Ausführlich beschäftigten sich die Fahnder auch mit Auffälligkeiten bei jenen merkwürdigen Partnerfirmen in Asien, die dem Konzern zuletzt angeblich einen Großteil seines vermeintlichen Gewinns lieferten – was sich in diesem Sommer dann als Märchen entpuppte. Vertrauliche Dokumente zeigen, dass das Finanzamt München auf Basis der Erkenntnisse der Betriebsprüfer spätestens Anfang 2020 auch die Staatsanwaltschaft in München informierte. Doch die Ermittlungsbehörde sah damals keinen „ausreichenden Anfangsverdacht“, der „die Einleitung eines Strafverfahrens rechtfertigt“, wie es in einem Vermerk aus dem Januar heißt.
„Auffällige Sachverhalte“
Die treibende Kraft bei den Ermittlungen war laut Dokumenten aus der Steuerverwaltung vor allem ein Beamter des bayerischen Landesamts für Steuern, der für die Betriebsprüfung bei dem Zahlungsdienstleister aus dem Vorort Aschheim zuständig war. Dieser Fahnder legte über Monate einen Ermittlungseifer an den Tag, wie er im Fall Wirecard bis zum Kollaps dieses Jahr bei keiner anderen deutschen Behörde erkennbar war – jedenfalls nicht bei der Finanzaufsicht oder der Staatsanwaltschaft.
Als die Bafin im Frühjahr 2019 wegen angeblicher Marktmanipulation Strafanzeige gegen die „FT“-Journalisten stellte, die immer wieder über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard berichteten, machte der Steuerprüfer etwas, auf das andere Behörden offenbar nicht kamen oder nicht kommen wollten: Er ging den Vorwürfen der „FT“ nach. Dabei glich er die Angaben der Zeitung mit den Erkenntnissen aus der Steuerprüfung ab. Zudem holte er bei Registern und Datenbanken Einkünfte über Firmen aus dem Umfeld des Konzerns ein – Möglichkeiten, die nicht nur den Steuerbehörden offen stehen.
Im Juni 2019 gab der Betriebsprüfer seine Erkenntnisse dann in einem ausführlichen Bericht an das für Wirecard zuständige Finanzamt München weiter. Darin beschäftigte er sich auf der Grundlage der „FT“-Artikel von März und April 2019 ausführlich mit der Frage, „ob Bilanzmanipulationen vorliegen“ und ob hohe Forderungen des Konzerns gegenüber wichtigen Partnerfirmen in Asien „werthaltig“ seien. Die Belastbarkeit der Forderungen könne teilweise „nach dem derzeitigen Ermittlungsstand nicht beurteilt werden“, resümierte der Fahnder. Sollten sich Forderungen als nicht werthaltig erweisen, führe dies zu niedrigeren Umsatzerlösen und Gewinnen „in noch nicht bezifferbarer Höhe“.
Im Zusammenhang mit den asiatischen Partnerfirmen listete der Bericht auch weitere „auffällige Sachverhalte“ auf. Bei einem dieser Partner, Pay Easy auf den Philippinen, hätten sogar weder Mitarbeiterzahlen noch eine Bankverbindung ermittelt werden können. Eine Stelle, über die die deutschen Steuerbehörden Auskünfte über Firmen im Ausland einholen können, teilte dem Prüfer mit: Es könne „nicht bestätigt werden, dass Pay Easy auf den Philippinen tatsächlich wirtschaftlich aktiv ist“. Bei der Dubai-Tochter des Konzerns erwähnte der Prüfer auch schon das Thema Treuhandkonten.
Deals mit Mauritius
Sehr detailliert widmeten sich der bayerische Steuerprüfer und sein Kollege aus dem Bundesamt zudem einer Reihe von merkwürdigen Firmendeals durch den Wirecard-Konzern. In den Jahren 2010 bis 2015, dem Zeitraum der jüngsten Betriebsprüfung, hatte Wirecard rund ein Dutzend kleinere Paymentfirmen geschluckt oder deren Kundenstämme gekauft, für insgesamt mehr als eine halbe Milliarde Euro. Bei vier dieser Deals, so hatte die steuerliche Betriebsprüfung bei Wirecard ergeben, landete der Kaufpreis jedoch nicht bei klar identifizierbaren Eigentümern, sondern bei Briefkastenfirmen in Steueroasen wie den British Virgin Islands, in Panama oder auf der Insel Mauritius.
Besonders ein Deal alarmierte die Prüfer: Ende 2011 übernahm Wirecard ein Kundenportfolio von einer Firma namens a&a Holding mit Sitz auf Mauritius. Vereinbarter Kaufpreis: 17,25 Mio. Euro. Wie die Betriebsprüfung ergab, steckten hinter der a&a ein früherer Wirecard-Manager und seine Frau. Der Mann namens Alexander H. war in der Anfangszeit Finanzvorstand bei Wirecard. Nach seinem Ausscheiden 2003 gründete H. auch eine andere Zahlungsfirma. Er wohnte zeitweise in Südafrika und ließ sich schließlich in Kleinmachnow bei Berlin nieder.
H. erscheint als leicht schillernder Charakter. Unter dem Zweitnamen Alex A. nimmt er an Autorennen teil, sowohl physisch wie bei Online-Wettbewerben. In seinem Umfeld mischte damals auch öfter ein anderer Mann mit, der sich auf seiner Facebook-Seite als Trecker-Fan outet und ebenfalls bei Wirecard ein guter Bekannter war: Roland W. Er hatte ab 2002 mehrere Jahre lang als Wirtschaftsprüfer die Abschlüsse von Wirecard testiert. Später wurde W. Geschäftsführer bei einer Münchner Steuerberatungsgesellschaft.
Wie die Steuerermittlungen ergaben, waren H. und W. privat auch Eigentümer einer gemeinsamen Firma, die Kundenstämme über Umwege in Steueroasen an Wirecard verkaufte. Zugleich erhielt die Steuerberatungsgesellschaft, bei der W. Geschäftsführer war, bereits im Jahr 2011 den Auftrag, den Wert des Kundenportfolios der a&a Holding seines Bekannten H. zu ermitteln.
Dabei kam es zu einer Merkwürdigkeit, die später auch Finanzbeamten auffiel: Zwar bezifferte das Gutachten den Wert der „Kundenbeziehungen“, die Wirecard von der a&a Holding kaufen wollte, auf 27,26 Mio. Euro. Mit dem Konzern vereinbart wurde aber nur ein um 10 Mio. Euro niedrigerer Kaufpreis. Darüber hinaus überwies Wirecard das Geld auch nicht direkt an H. – sondern an die Steuerberatungsfirma von Roland W., mit der es eine Treuhandvereinbarung gab.
Inzwischen wirft H. seinem alten Kompagnon W. vor, dass er im Jahr 2011 mit 13 Mio. Euro den größten Teil der von Wirecard überwiesenen Kaufsumme einbehalten und nicht weitergeleitet habe. H. hat W. deshalb nach Angaben seines Anwalts auch vor dem Landgericht in München verklagt. Aber warum wurde er mit der Klage erst aktiv, nachdem sich das Finanzamt 2019 nach der Versteuerung dieses Teils des Kauferlöses erkundigte? Es sei damals „nicht unbedingt opportun“ gewesen, „den Branchen-Primus Wirecard wegen nicht eingehaltener Verträge zu verklagen“, argumentiert der Anwalt von Alexander H.
W. und seine Steuerberatungsfirma ließen Anfragen bisher unbeantwortet.
Deals wie dieser erweckten auch das Misstrauen der Bundessteuerprüfer, die an der Betriebsprüfung der bayerischen Kollegen bei Wirecard beteiligt waren und die Untersuchung der Firmenkäufe übernahmen. Anfang Juni 2019 informierte ein Beamter des Bundeszentralamts für Steuern das Finanzamt München daher auch in einem eigenen Schreiben über die Ergebnisse der Bundesprüfung.
Bei vier der damaligen Verkäufer handele es sich um „Briefkastenfirmen, die keine Mitarbeiter beschäftigen“, schrieb der Bundesprüfer an seine Münchner Kollegen. Da die „ausländischen Empfänger“ der Zahlungen nicht benannt würden und noch weitere Informationen über „eventuelle Hintermänner“ eingeholt werden müssten, wolle man den Kaufpreis steuerlich nicht als Betriebskosten von Wirecard anerkennen. Zudem lasse die Zahlung an inaktive Briefkastenfirmen „den Verdacht zu, dass die hinter den Briefkastenfirmen stehenden Empfänger ihren steuerlichen Pflichten nicht nachkommen“, heißt es in dem Schreiben aus dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt). Ausdrücklich erwähnte der Prüfer darin auch die offenen Fragen bei beiden Geschäften mit Verbindung nach Mauritius: bei der a&a Holding und dem Zukauf in Indien.
Keine Informationen an die Bafin
Abgeordnete der Linken und der FDP im Bundestag hatten bereits im August 2020 nach möglichen Erkenntnissen beim Bundeszentralamt für Steuern gefragt, das zum Geschäftsbereich von Finanzminister Scholz gehört. Scheibchenweise hatte das Finanzministerium zunächst bestätigt, dass ein Prüfer des Bundesamtes an einer Außenprüfung bei Wirecard beteiligt war. Erst auf wiederholte Nachfragen räumte das Scholz-Ministerium ein, dass diese Prüfung noch bis Juni 2020 lief. Diese Prüfung für die Geschäftsjahre 2010 bis 2015 habe aber „ausschließlich steuerliche Sachverhalte“ zum Thema gehabt, behauptete etwa die Parlamentarische Staatssekretärin Sarah Ryglewski (SPD) am 24. August in der Antwort auf eine Anfrage der Linken.
Das musste man so verstehen, als ob die Prüfer keinerlei Erkenntnisse über mögliche betrügerische Machenschaften gewonnen hätten. In einem internen Schreiben briefte ein Mitarbeiter der Steuerabteilung des Finanzministeriums die Finanzmarktabteilung im eigenen Haus am 25. August auch für Antworten an die FDP-Fraktion. „Das BZSt – die Bundesbetriebsprüfung – hat in Sachen Wirecard keine Informationen an die Justiz- und Polizeibehörden der Länder, auch nicht des Freistaates BY, übermittelt“, behauptete der Scholz-Bedienstete. Und ihrerseits hätten auch die Justiz- und Polizeibehörden der Länder, auch in Bayern, „keine Informationen“ zu dem Konzern an das Bundesamt übermittelt.
Angesichts der intensiven Ermittlungen der Finanzprüfer von Land und Bund bei Wirecard sowie der Gespräche, die die Landesprüfer später auch mit der Staatsanwaltschaft München führten, klingt die Version des Bundesfinanzministeriums zumindest verkürzt. Auf Anfrage von Capital und „Stern“ beteuerte das Ministerium jetzt allerdings, die Fragen zu den Vorgängen korrekt beantwortet zu haben. Kurz und unmissverständlich beantwortete das Scholz-Ministerium zudem die Frage, ob das Bundeszentralamt für Steuern die Finanzaufsicht über die Erkenntnisse zu Wirecard informiert habe: „Die Betriebsprüfung ergab keinen Anlass, die Bafin zu informieren.“
Der Bericht des bayerischen Betriebsprüfers erreichte jedenfalls das Finanzamt München Mitte Juni 2019. Darin schrieb der Beamte ganz zum Schluss: „Ich bitte um Prüfung, ob strafrechtliche und bußgeldrechtliche Maßnahmen zu ergreifen sind.“ Doch schon eine Woche später wurde das Ansinnen von der zuständigen Bußgeld- und Strafsachenstelle des Finanzamts abgebürstet. Die Erkenntnisse der Betriebsprüfer rechtfertigten keine Abgabe an die Staatsanwaltschaft, beschied ein zuständiger Finanzbeamter. Es gebe lediglich „Mutmaßungen, die maßgeblich durch Presseberichte initiiert sind“. Und: Die Vorwürfe seien doch „durch die Wirecard-Gruppe öffentlich bestritten“ worden.
Eine Anfrage von Capital und „Stern“ dazu beantwortete jetzt „zuständigkeitshalber“ das Landesamt für Steuern. Aufgrund des Steuergeheimnisses könne man keine Auskünfte erteilen, teilte eine Sprecherin mit. Sie tat das auch im Namen des bayerischen Finanzministeriums. Damit bleibt offen, ob die Staatsregierung Kenntnis von dem Vorgang hatte oder eventuell sogar an der Entscheidung des Finanzamts beteiligt war, Wirecard im Sommer 2019 nicht der Staatsanwaltschaft zu melden.
Steuerprüfer ließ nicht locker
Der Wirecard-Spezialist des bayerischen Landesamtes für Steuern ließ selbst nach der ersten Abfuhr nicht locker. Im Oktober 2019 veröffentlichte die „Financial Times“ auf Basis von Dokumenten aus dem Unternehmen weitere Artikel mit Hinweisen auf Scheinumsätze in Asien. Daraufhin verfasste der bayerische Steuerfahnder sofort einen weiteren Bericht, in dem er die neuen Vorwürfe mit seinen Ermittlungsergebnissen abglich.
Darin untermauerte der Betriebsprüfer nicht nur mit detaillierten Geschäftszahlen für das Jahr 2016 die Abhängigkeit des Konzerns von jenen asiatischen Partnern namens Al-Alam, Pay Easy und Senjo, an deren Umsätzen mit angeblichen Kunden die „FT“-Berichte massive Zweifel äußerten. Er verwies auch darauf, dass Wirecard zu mehreren in den Artikeln genannten heiklen Punkten in der Betriebsprüfung einer Antwort ausgewichen sei. Zudem listete der Prüfer eine Reihe neuer „Auffälligkeiten“ bei den wichtigen Partnern in Asien auf. Erneut bat er, die Aufnahme eines Bußgeld- oder Strafverfahrens zu prüfen.
Wie aus internen Unterlagen hervorgeht, entschied das Finanzamt München nun, auch die Staatsanwaltschaft über die Ermittlungsergebnisse aus der Betriebsprüfung zu informieren. Laut einer Gesprächsnotiz vom 24. Januar 2020 kam es zu einem Treffen, an dem der Wirecard-Prüfer des Landesamts für Steuern, mehrere Beamte des Finanzamts München sowie zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft teilnahmen: Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl, die heute die Ermittlungen im Fall Wirecard leitet, sowie ein Kollege, der seinerzeit gegen die „FT“-Journalisten wegen Marktmanipulation ermittelte. Gesprächsgegenstand: „Wirecard – weiteres Vorgehen“.
Offenbar hatte es im Vorfeld des Gesprächs Differenzen gegeben, wie es in dieser Sache weitergehen solle. In dem Gespräch, so heißt es in dem Protokoll, habe der Betriebsprüfer das „strittige Problem“ vorgetragen. Die Staatsanwaltschaft sehe aber „zusammengefasst keinen ausreichenden Anfangsverdacht, die hier die Einleitung eines Strafverfahrens rechtfertigen“. Allerdings habe die Staatsanwaltschaft die Absicht, den von Wirecard in Auftrag gegebenen Sonderuntersuchungsbericht der Prüffirma KPMG nach dessen Veröffentlichung im Frühjahr „anzufordern“.
Auf Fragen nach diesen Vorgängen wollte sich die Staatsanwaltschaft jetzt nicht äußern und berief sich auf das Steuergeheimnis.
Bekannte Namen aus Wirecard-Umfeld
Dabei hätten der Ermittlungsbehörde einige der Namen aus dem Wirecard-Umfeld, die die Betriebsprüfer in ihren Berichten erwähnten, bekannt vorkommen können. Mehrere dieser Personen wurden bereits Anfang 2016 ausführlich in Berichten der Researchfirma Zatarra erwähnt – auch der Kleinmachnower Unternehmer Alexander H. Doch seinerzeit untersuchten die Münchner Staatsanwälte im Fall Zatarra – nicht zuletzt auf Druck der Finanzaufsicht Bafin – nur eine mögliche Marktmanipulation durch die Autoren der Zatarra-Berichte selbst und von Investoren aus dem Ausland.
Nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens reiste Zatarra-Hauptautor Matthew Earl dann im Juni 2019 auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft nach München – genau in jener Zeit, in der der bayerische Betriebsprüfer seinen ersten Bericht an die Finanzverwaltung schickte. Earls Gesprächspartner damals: Oberstaatsanwältin Bäumler-Hösl und ihr Kollege, mit denen Anfang 2020 auch der Betriebsprüfer sprach.
Eigentlich wollten die Ermittler den Wirecard-Kritiker als Zeuge in dem Verfahren gegen die „FT“-Journalisten hören. Tatsächlich sei es darum dann aber nur recht kurz gegangen, sagte Earl im Gespräch mit Capital und „Stern“. Anschließend habe er vier Stunden lang Belege für mögliche Verstöße von Wirecard gegen Anti-Geldwäsche-Gesetze präsentiert, die allesamt im Internet zugänglich gewesen seien.
Anfangs sei die Atmosphäre noch sehr kühl gewesen, sagte Earl, „als wäre ich der Staatsfeind Nummer eins“. Aber im Laufe des Termins habe sich die Lage entspannt, die Staatsanwälte seien sehr an seinen Ausführungen interessiert gewesen und hätten „verärgert“ über die Machenschaften von Wirecard gewirkt. Allerdings sei auch auf „Grenzen“ für die Ermittler verwiesen worden.
„Nach dem Gespräch hatte ich den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleiten wird“, sagte Earl. Nach seiner Rückkehr nach London habe er tags darauf auf Wunsch der Staatsanwälte seine Präsentation geschickt – dazu Auszüge aus Handelsregistern, Gerichtsdokumente aus den USA sowie Organigramme, in denen er detailliert die Zusammenhänge zwischen Personen und Firmen veranschaulicht hat. Allerdings habe er dann nie wieder etwas von den Ermittlern gehört.
Auf Anfrage bestätigte die Staatsanwaltschaft das Treffen mit Wirecard-Kritiker Earl am 19. Juni 2019. Man habe „in Sachen Wirecard seit Langem großes Interesse daran, auch mit Shortsellern in Kontakt zu treten, um zu erfahren, ob es mögliche Ermittlungsansätze gegen Wirecard gäbe“, erklärte eine Sprecherin der Behörde. Zum Inhalt des Gesprächs könne man „aus ermittlungstaktischen Gründen“ keine Angaben machen. Es sei jedoch weniger um Vorwürfe der Geldwäsche gegangen, die zu diesem Zeitpunkt bereits verjährt seien, sondern „mehr um das Agieren von Wirecard insgesamt“.
Shortseller Earl sagte dagegen, er habe sich bis vergangenes Jahr gar nicht getraut, wegen der Münchner Ermittlungen gegen ihn nach Deutschland zu reisen – aus Angst, dort verhaftet zu werden. Auch die Erkenntnisse des Betriebsprüfers aus dem bayerischen Landesamt für Steuern und seines Kollegen aus dem Bundesamt führten letztlich nicht dazu, dass der jahrelange Wirecard-Betrug in diesem Sommer aufflog. Am Ende brauchte es dafür die Sonderuntersuchung von KPMG. Diese war allerdings nicht von Behörden initiiert worden – sondern auf Druck von großen Aktionären von Wirecard selbst.
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