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Wirecard-Skandal Nach dem Versagen der Behörden droht das Versagen der Justiz

Auftakt zum Wirecard-Musterprozess Ende Januar in der Messe München
Auftakt zum Wirecard-Musterprozess Ende Januar in der Messe München
© Sven Simon/Frank Hoermann / Picture Alliance
Die bayerische Justiz verschleppt die Aufarbeitung des Wirecard-Skandals. Das Verfahren steht exemplarisch für Deutschland: teuer, langsam, undigitalisiert – zum Schaden der Anleger, meint Gastautor Marc Liebscher

Der 2020 aufgeflogenen Bilanzskandal um den Münchner Zahlungsdienstleister und Dax-Konzern Wirecard ist der größte Schadensersatzfall der deutschen Justizgeschichte. Rund 50.000 Anleger wurden geschädigt und 30 Mrd. Euro Börsenwert lösten sich in Luft auf. Der deutsche Kapitalmarkt war auf internationaler Bühne bis auf die Knochen blamiert. Ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages stellte im Nachhinein massive Versäumnisse fest: von Aufsichtsbehörden, Staatsanwaltschaften und Ministerien. Mehr als ein Dutzend Beteiligte mussten ihren Hut nehmen, Gesetze wurden reformiert, und allseits wurde Besserung geschworen. 

Damit richten sich nun alle Augen verständlicherweise auf die Aufarbeitung des Skandals. Ist die deutsche Justiz dem gewachsen? Das Zwischenfazit dazu ist leider ernüchternd: Insbesondere die Art und Weise, wie die zuständige bayerische Zivilgerichtsbarkeit mit Klagen auf Schadensersatz Abertausender Wirecard-Anleger verfährt ist – vorsichtig gesprochen – äußerst zweifelhaft. Nach dem Versagen beim Verhindern droht nun also ein Versagen bei der Aufarbeitung.

Dazu muss man wissen: Die Klagen zahlreicher Anleger auf Schadensersatz richten sich vor allem gegen den Abschlussprüfer EY (vormals Ernst & Young). Sie gründen auf dem Vorwurf, dass EY die Finanzberichte des Skandalkonzerns lediglich ins Blaue hinein geprüft und damit die Anleger vorsätzlich geschädigt habe. Gebündelt werden diese Abertausend Klagen durch ein besonderes gerichtliches Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, kurz KapMuG. Und dieses KapMuG-Verfahren kommt nicht voran. Schuld daran ist nicht das Gesetz – sondern die Art und Weise, wie die bayerische Justiz das Gesetz anwendet und das KapMuG-Verfahren führt.

Fehlerhafte Urteile in erster Instanz

Zur Erinnerung: Schon vor Einstieg in das Musterverfahren hatte sich die bayerische Justiz –namentlich das Landgericht München I – keineswegs mit Ruhm bekleckert. Sämtliche Klagen von Wirecard-Investoren gegen EY wurden seit Sommer 2020 durch das Landgericht vom Tisch gewischt. Die Urteile des Landgerichts aber waren derart fehlerhaft, dass sich die zweite Instanz, das Oberlandesgericht München, in einem (von mir) sogenannten Watschn-Beschluss dem Landgericht München I nach Hause leuchtete. Im Dezember 2021 attestierte das OLG dem Landgericht, die Wirecard-Klagen oberflächlich und grundrechtswidrig zum Nachteil der Anleger abgewiesen zu haben. Dem Landgericht München I wurde also bei der Beurteilung des größten Schadensfalls in der Geschichte des deutschen Kapitalmarkts krasse Justizfehler angekreidet.

Damit aber nicht genug: Im Rahmen des nunmehr seit mehreren Jahren laufenden KapMuG-Verfahrens zur Bündelung aller Schadensersatzklagen von Wirecard-Investoren hat das Bayerische Oberste Landesgericht anlässlich der mündlichen Verhandlung am 22. November 2024 dem Landgericht München I eine zweite Watschn verpasst: Das Oberste Landesgericht zerpflückte öffentlich die Vorlage des Landgerichts München I zu den „Feststellungszielen“ des KapMuG-Verfahrens. „Die juristische Qualität des Vorlagebeschlusses ist, sehr vorsichtig formuliert, äußerst dürftig“, erklärte das Bayerische Oberste Landesgericht wörtlich. Ein Paukenschlag: Der Vorlagebeschluss – also das zentrale Verfahrensdokument für die Bündelung der Schadensersatzklagen im KapMuG-Verfahren – ist zu 95 Prozent unbrauchbar.

Aber auch das Watschn austeilende Bayerische Oberste Landegericht steht selbst zu Recht in der Kritik. Das Gericht führt das KapMuG-Verfahren nicht zügig und pragmatisch, sondern verzögert durch kleinteilige und unkluge Verfahrensführung dessen Vorankommen und wendet Digitalisierungsmöglichkeiten anfängerhaft an. Im KapMuG-Verfahren sind so schon mehr als zwei Jahre verstrichen, ohne dass nennenswerter Fortschritt zu erkennen ist. 

Es droht ein Endlosprozess

Zunächst dauerte schon die Auswahl des Musterklägers – zwar ein wesentlicher, aber nicht wirklich komplexer Schritt – ein Jahr. Sodann benötigte das Bayerische Oberste mehr als ein weiteres Jahr, um über die Zulässigkeit des Vorlagebeschlusses und seiner rund 50 Feststellungsiele zu verhandeln. In der Sache, also ob EY gegenüber den Klägern haftet, hat sich also nach all den Jahren noch gar nichts getan. Damit droht das Wirecard-KapMuG zum Endlosprozess zu verkommen.

Arbeitsüberlastung der deutschen Ziviljustiz erklärt dieses Versagen nicht. Die Eingangszahlen neuer Verfahren (und damit die Arbeit) in der Zivilgerichtsbarkeit sind seit Jahren massiv rückläufig – seit 2004 minus ein Drittel. Auch beschäftigt Deutschland eine hohe Anzahl an RichterInnen pro Einwohner. Die Bundesrepublik liegt mit mehr als 22.000 tätigen Richtern nur knapp hinter den auf die Bevölkerung bezogen fast viermal so großen USA mit 24.000 Berufsrichtern. Damit leistet sich Deutschland fast dreimal so viele Richter wie Frankreich und Italien und viermal so viele wie England (mit Wales).

Die Ursachen für das drohende Versagen der bayerischen Justiz liegen vor allem in der Art und Weise wie richterliche Rechtsprechungsarbeit zunehmend in Deutschland organisiert wird: teuer, langsam, mühevoll, unberechenbar, unpragmatisch, undigitalisiert, fortbildungsfern, unspezialisiert. 

Was bedeutet dies alles nun aber konkret für Wirecard-Investoren, die EY auf Schadensersatz verklagt haben? Vieles spricht dafür, dass am Ende die Kläger gegen EY Recht bekommen. Aber bis dahin ist es ein langer Weg, und EY nutzt die Zeit, Haftungsmasse in Sicherheit zu bringen.

Zunächst einmal aber wird das Bayerische Oberste Landesgericht am 27. Februar 2025 erst einmal entscheiden (drei Jahre nach Start!), ob das Sammelverfahren nach dem KapMuG gegen EY überhaupt anwendbar ist. Davon gehen die meisten Beobachter aus, hat doch der Gesetzgeber selbst im Sommer erklärt, dass nach seiner Auslegung auch Testate von Abschlussprüfern für Jahresabschlüsse von Kapitalmarkt-Emittenten in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen. Dann kann sich das Gericht endlich dem Inhalt des Falles zuwenden.

Aber leider hat das Bayerische Oberste in der mündlichen Verhandlung Ende November wenig Hoffnung darauf gemacht, dass dies zügig geschehen wird: Für die weiteren mehr als 100 Feststellungsziele werde man kleinteilig erstmal prüfen, ob man sich mit denen überhaupt befassen wolle. Da wird dem Justizunterworfenen Angst und Bange: Für die ersten 50 Ziele benötigte das Gericht ein Jahr – lediglich um festzustellen, mit welchen es sich, in einem später kommenden Schritt, inhaltlich auseinandersetzen möchte.

Deutschlands Ruf steht auf dem Spiel

Aber trotz allen Zeitverzugs: Blickt man auf die Ergebnisse des Bundestags-Untersuchungsausschusses, auf die Feststellung des vom Deutschen Bundestag beauftragten sogenannten Wambach-Berichts und die Verlautbarungen des Gerichts, so scheint eine Haftung von EY geradezu vorgezeichnet. Dafür spricht letztlich auch, dass EY Deutschland in einer gut geplanten Aktion Anfang 2024 begonnen hat, seine Haftungsmasse weg zu verschieben. Durch eine formwechselnde Umwandlung der ursprünglich verklagten EY GmbH in eine EY GmbH & Co. KG sind jene drei Unternehmenslinien von EY, die gute Umsätze und hohe Gewinn erwirtschaften, mit Wirkung zum Sommer aus der verklagten EY-Einheit herausgezogen worden. Als Haftungsmasse verblieben ist lediglich die Unternehmenslinie Wirtschaftsprüfung, welche traditionell die geringsten Umsätze und Gewinne beibringt. 

Die Erträge aus den Geschäftsbereichen Steuerberatung, Strategie- und Transaktionsberatung sowie die Unternehmensberatung sollen so vor Wirecard-Haftungsklagen abgeschirmt werden. Zwar besteht eine sogenannte Nachhaftung der ausgeschiedenen Gesellschaften für die Dauer von fünf Jahren. Angesichts des langsamen Agierens der Justiz im KapMuG-Verfahren ist aber höchst zweifelhaft, ob in dieser Zeit rechtskräftige Urteile gegen EY vorliegen werden. Gegen die Entreicherung der EY-Rechtsnachfolgerin kämpfen die Kläger vehement an. Eine Stoßrichtung wird sein, auch andere EY-Gesellschaften, beispielsweise in den USA oder Asien, in Haftung zu nehmen.

Das Zwischenergebnis: Wie bei der (nicht erfolgten) Verhinderung des Wirecard-Skandals werden nun, wie unter einem Brennglas, bei der justiziellen Aufarbeitung wiederum erhebliche Defizite deutscher Kapitalmarktinstitutionen offengelegt – auch für die Augen der internationalen Öffentlichkeit. Dessen und ihrer Verantwortung müssen sich alle Beteiligten bewusst sein.

Dr. Marc Liebscher ist Rechtsanwalt in Berlin und spezialisiert auf Kapitalmarktrecht. Er war unter anderem Prozessbevollmächtigter des Musterklägers im laufenden KapMuG-Verfahren Wirecard sowie Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zur KapMuG-Reform 2024.

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