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Koalitionsausschuss Koalition der Drückeberger

Lars Klingbeil, Bärbel Bas, Markus Söder und Friedrich Merz gehen zur Pressekonferenz
Die Spitzenkoalitionäre nach ihren Verhandlungen: Union und SPD verharren im Klein-Klein
© Kay Nietfeld/dpa / Picture Alliance
Die Beschlüsse der Regierung zu Verkehr und Sozialstaat sind nicht falsch. Doch warum trauen sich Union und SPD nicht an die eigentlichen Probleme Deutschlands heran?

Eine alte Theorie von mir, die ich bisher allerdings weitgehend für mich behalten habe, besagt, dass man die Essenz einer Rede, einer Vereinbarung oder einer Erklärung eher aus den letzten als aus den ersten Sätzen ablesen kann. Denn verständlicherweise geben sich Autoren bei den ersten Sätzen immer sehr viel Mühe – gerne mit etwas Pathos, das dann über den nicht selten eher ernüchternden Gehalt der folgenden Absätze hinwegtäuscht. Die letzten Sätze hingegen sind oft weniger bemüht und gedrechselt, manchmal sogar einfallslos und eher das Ergebnis erschöpfter Ratlosigkeit. Damit sind sie aber immerhin ehrlicher.

Erfreulich am Beschluss des Koalitionsausschusses in dieser Woche ist, dass die Autoren – vielleicht auch der Sitzung von mehr als neun Stunden bis nachts um halb drei geschuldet – auf jedes Pathos zur Eröffnung verzichtet haben: „Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist das Rückgrat unserer Wirtschaft und der privaten Mobilität“, lautet der erste Satz der Erklärung, die am Donnerstagmorgen verbreitet wurde. So weit so klar und so richtig. Der letzte Satz jedoch – und dazwischen liegen gute sechs eng bedruckte Seiten mit vielen Spiegelstrichen – lautet dann: „Der Elternteil mit der hauptsächlichen Betreuung erhält künftig den vollen Regelbedarf, während für den umgangsberechtigten Elternteil ein pauschalierter Mehrbedarf vorgesehen ist.“

So endet also der Aufbruch in den großen Umbau des Sozialstaats, um den CDU/CSU und SPD nun so viele Wochen und Monate erbittert gerungen haben, also doch recht schnell wieder im Regelungsdickicht zu temporären Bedarfsgemeinschaften im Sozialgesetzbuch II. Irgendwie aber auch ganz passend und ehrlich. Wir nehmen es eben sehr genau, auch nachts um halb drei im Kanzleramt. 

Die Koalition macht Therapiefortschritte

Was also ist zu halten von den Beschlüssen der Koalition? Sie sind ein Anfang, immerhin, vielleicht eine erfolgreiche Übung, aus der die Bündnispartner im besten Fall die Erfahrung ableiten könnten, dass sie vielleicht doch gemeinsam etwas mehr bewegen können in den kommenden drei Jahren. Wobei die Entscheidungen von Donnerstagfrüh auch nur ziemlich genau dem entsprechen, was Union und SPD bereits vor sechs Monaten im Koalitionsvertrag vereinbart hatten. Aber auch das ist ja keine Selbstverständlichkeit mehr: Nach den zahlreichen Rückschlägen in den ersten Wochen, nach gebrochenen Versprechen und verlorenen Abstimmungen, ist der Koalitionsausschuss wenigstens eine Art hoffnungsvoller Therapiefortschritt.

Zu den atmosphärischen Fragen der Koalition empfehle ich Ihnen übrigens auch die Lektüre eines Textes meines Kollegen Nico Fried. In der Sache ist vor allem die Umbenennung des „Bürgergelds“ in „Grundsicherung“ ein Erfolg, weniger ein materieller als ein symbolischer. Zum einen für die Union, die das lange gefordert hatte, aber auch für all jene, die den Namen schon immer als bewusste Anbiederung an so etwas wie ein unbeschränktes Grundeinkommen aufgefasst hatten. Und davon gab und gibt es auch unter traditionellen SPD-Anhängern viele, die sich deshalb kopfschüttelnd von ihrer alten Partei abgewandt hatten. Hinzu kommen die schärferen Sanktionen für all jene, die Arbeitsangebote hartnäckig verweigern, auch das eine späte, aber richtige Korrektur und ein Zugeständnis an den gesunden Menschenverstand. 

Auch die Beschlüsse zur Finanzierung von Verkehrsinvestitionen sind wichtig. Ohne sie hätte die Koalition, die doch so viel investieren will, erklären müssen, warum sie dann trotzdem längst fertiggeplante Bauprojekte wieder auf die lange Bank schiebt (weil sie das Geld für Investitionen eben doch für andere Dinge verfrühstückt). Richtig wäre es gewesen, die dafür nötigen zusätzlichen Milliarden durch den Verzicht auf eine der kostspieligen und zu Recht umstrittenen Klientelausgaben zu finanzieren (etwa die geplante Mehrwertsteuersenkung für Restaurants). Aber diese Blöße, sich in der Euphorie des Anfangs verrannt zu haben, wollte sich offensichtlich kein Koalitionspartner geben.

Wo bleibt die große Rentenreform

Am weitesten hinter dem, was nötig und möglich wäre, bleiben die Beschlüsse zur Altersvorsorge zurück. Die geplante Aktivrente, also die Möglichkeit für Rentner, nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters bis zu 2000 Euro im Monat steuerfrei hinzuverdienen zu können, ist eine gute Idee, die man gegen die üblichen Einwände (Mitnahmeeffekte) einfach mal ausprobieren kann. Denn wenn sie, wie die Kritiker auch mutmaßen, nicht viel genutzt werden wird, dann wird sie auch den Haushalt nicht besonders gravierend durch Steuerausfälle belasten. 

Aber das ändert nichts daran, dass sich die Koalition um die wirklich großen Aufgaben auch in dieser Woche erfolgreich herumgedrückt hat: Die Arbeit an einer wirklich umfangreichen Reform der Altersvorsorge lässt weiter auf sich warten (obwohl alle Optionen und Instrumente dafür lange bekannt sind), zugleich hält man daran fest, bereits beschlossene Reformen wieder rückgängig zu machen. Was das Beitrags- und Steuerzahler in den kommenden Jahren kosten wird – es geht um wirklich große Summen – hat meine Kollegin Nadine Oberhuber für Sie noch mal analysiert. Und was bei Gesundheit und Pflege in den kommenden Wochen auf die gesetzlich Versicherten zukommt, ist weiter völlig unklar. Gerade mal zwei Monate haben Union und SPD noch, um einen massiven Anstieg der Kranken- und Pflegebeiträge zum Jahreswechsel zu verhindern.

Die eigentliche Ernüchterung bei den Koalitionsbeschlüssen stellt sich jedoch ein, wenn man einmal kurz die kleinteilige deutsche Innenpolitik ausblendet und sich anschaut, was gerade in den USA geschieht – und zwar auch jenseits von Donald Trump. Nach dem spektakulären Deal zwischen dem KI-Start-up OpenAI und dem US-Chipkonzern AMD kommen Analysten auf die fantastische Summe von 1000 Mrd. Dollar, die allein OpenAI sowie die Techkonzerne Oracle, Nvidia, AMD, Microsoft und Amazon in den kommenden Jahren in neue Rechenzentren für KI investieren wollen. Eine Billion Dollar nur für Investitionen in KI, und auch das ist nur ein Ausschnitt – während die deutsche Regierung wochenlang darum ringt, wo das Land noch drei oder fünf Milliarden für die Sanierung baufälliger Straßen auftreiben kann. Oder wie genau die Verrechnung von Bürgergeldleistungen in temporären Bedarfsgemeinschaften neu gestaltet werden kann. Oder ob ein rosagefärbter Aufschnitt aus Erbsenbrei noch Wurst heißen darf – so viel zum Bürokratieabbau.

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Die Fantastilliarden, mit denen die amerikanischen Techkonzerne versuchen, ihre Vorherrschaft bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz zu sichern, sind aberwitzig und hochriskant – nicht wenige Experten halten sie für das sichere Zeichen einer neuen Tech-Blase und eines nahenden Crashs. Denn weiterhin ist völlig unklar, wie die Konzerne das eingesetzte Geld, das sie sich selbst zusammenleihen müssen, jemals zurückverdienen werden. Gut möglich, dass die blinde Investitionswut dort bald weite Teile der Welt viel Geld kosten wird, wenn Umsatzhoffnungen platzen und insbesondere aus dem aufgeblähten US-Aktienmarkt auf einmal viel Luft entweicht.

Doch nur, weil es die Amerikaner mal wieder übertreiben, kann sich Deutschland ja nicht einfach zurücklehnen und warten, bis die USA mal wieder in die Nähe des eigenen Niveaus abstürzen. Zumal eben auch die hiesige Wirtschaft leiden wird, wenn es die US-Wirtschaft tut. Nein, es muss doch eine Mitte geben zwischen der Gigantomanie in den USA und der Kleingeisterei, mit der sich die deutsche Politik allzu oft aufhält. Diesen halbwegs gesunden Mittelweg zu finden, ist auf jeden Fall die eigentliche Aufgabe, die Union und SPD noch vor sich haben.

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