Zu den größten Herausforderungen für Politiker im Arbeitsalltag gehört die Begegnungen mit der Realität. In Reden und Talkshows wird sie gern als absolut zwingend und handlungsleitend angeführt, allzu gerne wird dann auch der Satz bemüht, überhaupt beginne die „Politik mit dem Betrachten der Realität“. Doch oft genug entpuppt sich das Realitätssinn-stiftende Betrachten dann als Gesundbeten, unter manchen Umständen und unter großem Druck auch als Zurechtbiegen und Verdrehen.
Ganz so weit sind wir mit der neuen Regierungskoalition noch nicht, aber den Zustand des Gesundbetens haben wir schon seit einigen Wochen erreicht. Es fing mit den Arbeiten am Bundeshaushalt für das laufende Jahr an, setzte sich fort mit der gleich folgenden Aufstellung des Haushalts 2026 und zeigt sich überdeutlich im Hin- und Hergeschiebe der Milliarden zwischen dem regulären Etat des Bundes und dem neuen Sondertopf für Investitionen in die Infrastruktur.
Inzwischen streiten sich die Gelehrten um Ausgabenposten und Spiegelstriche in den Etats. Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der Wirtschaft und einst ein Initiator der Konstruktion mit einem „Sondervermögen“, sagte uns kürzlich aufgebracht: „Was die Regierung gerade macht, ist ein Skandal.“ Das Gespräch schlug einige Wellen, andere Ökonomen wie Jens Südekum – im Nebenamt jetzt Chefberater des Finanzministers – widersprechen wenigstens pflichtschuldig.
Deutschland braucht mehr als ein Miniwachstum
Aber der Befund ist ja recht deutlich: Auch 2025 wird wirtschaftlich als verlorenes Jahr enden, der lang versprochene Aufschwung mag sich einfach nicht einstellen. Und auch für 2026 ist längst noch nicht ausgemacht, dass wenigstens dann die Konjunktur deutlich anzieht. Während die meisten großen Wirtschaftsforschungsinstitute für 2026 wenigstens eine schwache 1 vor dem Komma sehen, gehen Skeptiker eher von einem Mini-Wachstum deutlich unter 1 Prozent aus.
Dabei geht es doch nicht darum, ob es hinter dem Komma ein paar Zehntelprozent hoch oder runtergeht – sondern es muss vor dem Komma etwas passieren, und zwar deutlich. Um die Stimmung im Land zu drehen, braucht eine so große Volkswirtschaft wie Deutschland Wachstumsraten von mindestens zwei bis drei Prozent. Das sind die Größenordnungen, um die es geht, und nicht 0,6 oder 1,1. Seit sechs Jahren aber wächst sie real gar nicht mehr.
Was als großer Befreiungsschlag und Modernisierungsaufbruch für das gesamte Land gedacht war, wird jedoch seit Wochen zermahlen zwischen den widerstreitenden Interessen der Koalitionspartner. Ihr Fehler gleich zu Beginn war: Statt in allen Beschlüssen der Regierung Aufbruch und Erneuerung die oberste Priorität zu geben, verlegte sich die noch junge Koalition zuerst darauf, ihre alten Wahlkampfversprechen abzuarbeiten. Mütterrente, die niedrigere Mehrwertsteuer in der Gastronomie, die Rentenniveaugarantie – alles wurde ganz schnell eingetütet, koste es, was es wolle. Doch nun versperren diese Projekte, hochgejazzt zu Symbolen der eigenen Stärke und Durchsetzungskraft, finanziell und programmatisch den Weg zu allem, was stattdessen notwendig wäre: Flexibilität für Reformen und Flexibilität bei den Finanzen.
Wahrscheinlich haben die Koalitionspartner dies auch längst erkannt. Aber sie finden keinen Weg heraus aus der selbstverschuldeten Handlungsunfähigkeit. Das ist auch schwierig, denn niemand will die eigenen Wahlversprechen wieder kassieren – niemand will eingestehen: Das, was wir all die Jahre vor uns hergetragen haben, passt nicht mehr zu der Welt, mit der wir heute umzugehen haben.
Schwarz-rot wiederholt die Fehler der Ampel
Das Muster ist bekannt: Der Kardinalfehler der Ampel-Koalition war es, nach dem dramatischen Kriegs- und Krisenjahr 2022 nicht den Mut aufzubringen, den ein Jahr zuvor geschlossenen Koalitionsvertrag in den Papierkorb zu werfen. Stattdessen versuchten alle drei Parteien, ab dem Frühjahr 2023 wieder zur alten Regierungsagenda zurückzukehren: Wärmepumpe und Heizungsgesetz statt ideologiefreier Überprüfung der Energiepolitik; Rentenpaket 1, 2, 3 und Bürgergeld statt einer breiten Entlastung für Familien und Arbeitnehmer; Rückkehr zur Schuldenbremse statt massiver Investitionen. Es war eine Politik, die nicht mehr in die Zeit passte – so wie die Ampel am Ende auch.
Ein Jahr nach dem jähen Scheitern der alten ist auch die neue Koalition drauf und dran, diesen Fehler zu wiederholen. Lieber verbringen sie die nächsten Monate damit, an allen möglichen Stellen des Haushalts hie und da ein paar hundert Millionen einzusammeln, statt einmal zu sagen: Es tut uns leid, aber eine Mehrwertsteuersenkung für einige tausend Gastwirte und höhere Renten auf Kosten von Arbeitnehmern und Steuerzahlern passen doch nicht in die Zeit. Stattdessen verwenden wir das Geld lieber dazu, die Bedingungen für alle Arbeitnehmer und Unternehmen im Land zu verbessern.
Wie es aussieht, wird dies nicht passieren. So läuft die Koalition, nach nur sechs Monaten im Amt, ernsthaft Gefahr, einen guten Teil der restlichen Legislaturperiode mit der Bewältigung ihrer eigenen, erst so kurzen Vergangenheit zu verbringen. Indem sie den üppigen Versprechen und Ausgaben aus ihren ersten Tagen nun über viele Monate mühsam hinterhersparen muss – mit allen Konflikten und neuen faulen Tauschgeschäften, die eine solche Koalition nötig macht.
Auch die Regierungsklausur in dieser Woche brachte in dieser Hinsicht leider keine Wende. Stattdessen einmal mehr Politik-Ersatz und Beschwörungsformeln. Das lang erwartete Reformprogramm des neuen Digitalministers Karsten Wildberger zum Abbau der Bürokratie in Deutschland ist vor allem eines: Das Versprechen, sich diesmal aber wirklich anzustrengen. Viele Worte, viele Absichten, wenig Konkretes.
Noch hat die Regierung drei Jahre Zeit
„Die Modernisierung von Staat und Verwaltung basiert auf einer neuen Interpretation des Ressortprinzips im Sinne eines Whole‑of‑Government‑Ansatzes.“ Es sind Sätze wie diese, die keine Hoffnung machen, sondern Misstrauen wecken. Mein Kollege Niklas Wirminghaus hat Wildbergers Paket unter die Lupe genommen. Ich musste bei der Lektüre immer wieder an verschiedene Minister der früheren Regierung denken, die einem wortreich, aber auch glaubwürdig erklären konnten, wie schwer es für sie war, den bürokratischen Aufwand irgendwie zu beschneiden und einzugrenzen. Mag sein, dass sie alle unfähig waren – aber Absichtserklärungen und Best-in-class-Ansätze haben bisher nie einen großen Fortschritt gebracht.
Es ist immer noch viel zu früh, ein endgültiges Urteil über diese Koalition zu sprechen, sie hat noch gute drei Jahre Zeit, Dinge zu verändern und zu bewegen. Zumindest auf dem Papier. Und ja, ihre Aufgabe ist nicht trivial: Zwischen der alten eigenen Programmatik und den Erwartungen in der Bevölkerung ist ein Kurs nur schwer zu bestimmen. Mag also sein, dass sie still und im Verborgenen doch noch dafür sorgt, dass die privaten Investitionen wieder anziehen, dass Unternehmen Vertrauen in den hiesigen Standort fassen, dass sich die Strukturen erneuern.
Sehr wahrscheinlich aber müsste sie für einen echten Stimmungswechsel mutiger und ehrlicher werden – vor allem sich selbst gegenüber. Es wäre ihr immer noch zu wünschen, mehr noch aber uns allen.