Der Bundeskanzler tritt ans Rednerpult im Reichstagsgebäude und spricht mit getragener Stimme: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistungen von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Nein, das sagt nicht Friedrich Merz (CDU), das war Gerhard Schröder (SPD) im März vor 22 Jahren. Es war die berühmte Rede zur Agenda 2010. Vom amtierenden Regierungschef hat man solche Sätze bisher nur auf Parteitagen gehört. Konkrete Pläne? Fehlanzeige.
Dabei gibt es ganz aktuell ein gutes Beispiel dafür, wie man den Sozialstaat etwas mehr auf die Bedürftigen konzentrieren könnte. Es geht um den Pflegegrad 1. In der schwarz-roten Koalition in Berlin überlegen einige, ihn zu streichen. Sofort schloss SPD-Fraktionschef Matthias Miersch den Plan kategorisch aus. „Wir werden den Menschen nicht über Nacht etwas wegnehmen“, sagte Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) – und ließ sich damit noch ein Hintertürchen offen. Politiker beider Parteien verwiesen auf eine Kommission zur Pflegereform, die Mitte Oktober erste Ergebnisse vorlegen soll.
Pflegegrad 1 – Einladung zum Geldmitnehmen
Aber worum geht es genau? Der Pflegegrad 1 wurde erst 2017 eingeführt. Dort werden Menschen eingestuft, die eine „geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ haben. Die wichtigste Leistung ist dabei ein Entlastungsbetrag von 131 Euro monatlich – etwa für Hilfe beim Einkaufen und Putzen oder für die Teilnahme an Freizeit- und Sportangeboten.
Das ist alles wünschenswert. Aber ist es wirklich notwendig? Mehr noch: Da es eine Versicherungsleistung ist, kommt es nicht auf die finanzielle Bedürftigkeit an. Anspruch hat bei entsprechender Einstufung sowohl die gut betuchte Witwe als auch die Empfängerin der staatlichen Grundsicherung im Alter.
Seit der Einführung des Pflegegrades 1 hat sich die Zahl der dort Eingestuften auf mehr als 800.000 Menschen vervierfacht. Experten haben ausgerechnet, dass sich die jährlichen Kosten inzwischen auf 1,8 Mrd. Euro summieren. Hat die Selbstständigkeit unserer Senioren tatsächlich so nachgelassen oder wird hier Geld mitgenommen?
Lieber Pflegegrad streichen als armen Familien das Bürgergeld kürzen
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht hier nicht um Leistungsmissbrauch. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hat die Antragsteller begutachtet und eingestuft. Aber sind unsere hochbetagten Mütter, Väter, Tanten und Onkel nicht vor 2017 auch zurechtgekommen? War in Zeiten steigender Beitragssätze und Sozialausgaben die Einführung einer neuen, zusätzlichen Leistung wirklich richtig? Diese Frage sollte sich die schwarz-rote Koalition einmal stellen, ehe sie armen Familien ans Bürgergeld geht.
Wenn Friedrich Merz und seine Regierung an einem Punkt tatsächlich einmal die Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellen wollen, ist die Pflegeversicherung ein gutes Beispiel. Ältere Menschen und ihre Familien können bei geringer Beeinträchtigung der Selbstständigkeit Ausgaben von 131 Euro im Monat zum größeren Teil selbst gut schultern. Und wer wirklich bedürftig ist, dem könnte der Staat immer noch direkt helfen. Aber dabei geht es sicher um weniger als 1,8 Mrd. Euro im Jahr.
Dieser Artikel ist eine Übernahme des Stern, der wie Capital zu RTL Deutschland gehört. Auf Capital.de wird er zehn Tage hier aufrufbar sein. Danach finden Sie ihn auf www.stern.de.