VG-Wort Pixel

Kolumne Alles wird dezentral

Plattformen als Vermittler zwischen Kunde und Einzelhändler
Plattformen als Vermittler zwischen Kunde und Einzelhändler
© dpa
Vergessen Sie das Stichwort Digitalisierung. Ein ebenso großer Umbruch lautet: Dezentralisierung

Ich habe einen Bekannten, der einen recht interessanten Lebenswandel pflegt. Eigentlich produziert er Kunstwerke und Möbel und verkauft diese über Ebay und die Plattform Etsy. Davon allein kann er aber nicht leben. Also vermietet er einen Raum seiner Wohnung über Airbnb und nimmt in seinem Auto ab und zu Leute mit als Uber-Chauffeur oder vermietet den Wagen sogar ganz. Wenn das Geld am Monatsende mal richtig knapp wird, putzt er sogar ab und zu über Online-Plattformen Wohnungen und kauft über Instacard für alte Damen ein. Mithilfe von Solarpanels auf dem Dach senkt er seine Energiekosten. An eine Festanstellung würde er nie denken. Er sieht sich lieber als vollkommen frei schwebendes, flexibles, autarkes Wesen. Und damit ist er nicht allein.

Ein grundlegender Wandel des Wirtschaftssystems

Das Internet ist der Treiber dieses Lebenswandels. Aber die Folge ist eine Entwicklung, die größer ist als das Muster „Bytes ersetzen analoge Technologien“. Wir befinden uns in einem grundlegenden Wandel wie unser Wirtschaftssystem organisiert ist. Wir leben nicht nur im Zeitalter der Digitalisierung. Wir leben im Zeitalter der Dezentralisierung.

Dafür gibt es längst Indizien aus vielen Teilen der Wirtschaft. In der Werbebranche lösen sich die zentralen Strukturen bereits seit Jahren auf. Dort wurde das Modell Agentur jüngst von einigen Vordenkern für tot erklärt. Stattdessen geht der Trend zu losen Netzwerken von Freelancern. Ähnliches beobachtet man in anderen Teilen der Medien- und Kreativindustrie. Sogar in der Beratung.

Viele kleine Einheiten, nur noch wenige große

Mit der so genannten Gig Economy greift dieser Trend auch auf einfachere Jobs über, zum Beispiel auf Reinigungskräfte - möglich gemacht durch Plattformen wie Helpling, Gobutler oder Instacard. Diese Plattformen wirken wie Turbobeschleuniger für die Welt der Ich-AGs und Minijobber. Jede dieser Plattformen produziert eine Schar von autarken Einzelkämpfern anstelle von Festangestellten. Mit dem Preis einer geringeren Absicherung. Und immer mehr prekären Jobs.

Nächster Schauplatz: Sharing Economy. Sie steht mehr als alles andere für das "Prinzip Dezentral". Durch Plattformen wie Airbnb, Drivy oder Blablacar. Das beschreibt auch der Soziologe Jeremy Rifkin. Er skizziert in seinem Buch „Zero Marginal Cost" eine ganz neue Wirtschaftsform des Teilens. Eines ihrer Merkmale: viele kleine Einheiten, nur noch wenige große.

In einem anderen Werk von Rifkin, „Die dritte industrielle Revolution“, überträgt er das Prinzip sogar auf das Energiesystem. Auch hier gilt: immer mehr kleine dezentrale Einheiten, die große zentrale Player ablösen – in Form von Haushalten, die zu Mini-Energieproduzenten werden und überschüssigen Strom ins System einspeisen, anstelle von wenigen großen Kraftwerken. Den Energiekonzernen weist er dabei in Zukunft nur noch die Rolle von Schnittstellen und Plattformen in diesem dezentralen Produktionssystem zu.

Plattformen als Vermittler zwischen Kunde und Einzelhändler

Auch in der Fertigung lassen sich erste Züge der Dezentralisierung erkennen. Kleine Manufakturen sprießen überall aus dem Boden, bislang vor allem für Lifestyle- und Luxus-Produkte: von Möbeln bis Limonaden, von Mode über Uhren bis Gin. Möglich sind diese kleinen Produktionseinheiten nur durch den Vertriebskanal Internet. Besonders durch Plattformen für Handgemachtes wie etsy oder Dawanda.

Der nächste Schub kommt hier, wenn sich 3D-Druck in der Breite durchsetzt. Dann würden nicht mehr nur Lifestyle-Manufaktur-Güter von kleinen Einheiten produziert werden. Sondern auch billige Alltagsgüter. Statt einer großen Fabrik in China produziert dann im Extremfall jeder Haushalt selbst bei sich daheim seine Schrauben, Plastiklöffel oder Keramikschüsseln. Man druckt sie einfach schnell aus. Spätestens dann würde man tatsächlich von der nächsten industriellen Revolution sprechen.

Interessant auch, worüber derzeit bei Zalando, Amazon oder Ebay nachgedacht wird: Künftig werden Produkte wohl nicht mehr aus zentralen großen Logistikzentren an den Kunden verschickt. Sondern die Bestellungen kommen innerhalb von 30 Minuten von einem Händler in der Nähe, der den Artikel vorrätig hat. Gebracht wird das Produkt dann womöglich von einem Uber-Fahrer, der auch solche Waren-Transportservices anbietet. Zalando oder Amazon wären dann nur noch der Vermittler zwischen Kunde und Einzelhändler, eine Bestellplattform, die die Logistik quasi an dezentrale kleinere Einheiten auslagert. Es wäre nicht nur eine späte Versöhnung mit dem stationären Handel, den diese Player einst zerrüttet haben. Sondern es wäre ein weiterer Schritt zu einem dezentraleren Wirtschaftssystem.

Kann dezentrale Wirtschaft Demokratie fördern?

All diese Puzzleteile, denen wir mittlerweile täglich in unserem Konsum begegnen, fügen sich langsam zu einem Gesamtbild zusammen, zu einer neuen Wirtschaftsstruktur. Ihr Kernmerkmal: Sie ist kleinteiliger, segmentierter. Und vor allem: Sie ist viel weniger zentral aufgebaut.

Im Grunde ähnelt diese Wirtschaft in ihrer Struktur immer mehr dem Aufbau des Internets selbst: Dezentrale Netzwerke mit ein paar Knotenpunkten als Hubs. Gespiegelt wird das Ganze auch in der gesamten Gesellschaft. Schon seit längerem beobachten Soziologen eine Segmentierung und Individualisierung der Gesellschaft, der sozialen Milieus und Kulturen ebenso wie der Politik und Parteienlandschaft. Auch hier ist ein Treiber das Internet.

Und ganz nebenbei stellt sich dabei die Frage, ob eine solche dezentralere Wirtschaft und Gesellschaft nicht auch ganz andere Effekte hat, zum Beispiel Demokratie befördert. Denn totalitäre, auf Kontrolle ausgerichtete Systeme leben von Zentralismus. Ein dezentrales Wirtschaftssystem befördert hingegen Individualismus, Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen. Das könnte am Ende dann gar der weitreichendste Effekt des Phänomens Dezentralisierung sein, dessen Zeuge wir gerade werden.

Weitere Kolumnen von Martin Kaelble: Sehnsucht nach Offline, Jede Firma wird eine Tech-Company, Tanker vs. Schnellboot, Sorgt die Digitalisierung für mehr Ungleichheit? und Wo bleibt das deutsche Tesla?

Newsletter: „Capital- Die Woche“

Figure

Jeden Freitag lassen wir in unserem Newsletter „Capital – Die Woche“ für Sie die letzten sieben Tage aus Capital-Sicht Revue passieren. Sie finden in unserem Newsletter ausgewählte Kolumnen, Geldanlagetipps und Artikel von unserer Webseite, die wir für Sie zusammenstellen. „Capital – Die Woche“ können Sie hier bestellen:

Mehr zum Thema

Neueste Artikel