Herr Ottenbacher, in der vergangenen Woche hat das „Noma“, das beste Restaurant der Welt, angekündigt, 2024 seine Türen zu schließen. Das eigene Konzept – ja, eigentlich die gesamte Spitzengastronomie – sei wirtschaftlich kaum tragfähig. Deckt sich dieser Eindruck mit der Realität in Deutschland?
MICHAEL OTTENBACHER: Tatsächlich ist es so, dass die Spitzengastronomie geringere Margen hat als beispielsweise ein Imbiss oder ein Standardrestaurant. Die Faustregel lautet: Je hochwertiger die Küche, umso weniger Gewinn wirft sie ab. Allerdings hat sich das in den vergangenen Jahren auch stark verändert.
Inwiefern?
Die Spitzengastronomie konnte deutlich höhere Preise durchsetzen, und die meisten sind dadurch inzwischen profitabel. Lange Zeit war das nur möglich, wenn sie an ein Hotel angeschlossen waren oder einen Sponsor hatten. Das hat sich inzwischen geändert. Ich kann als Sternekoch mittlerweile gutes Geld verdienen – aber wenn ich wirklich gutes Geld verdienen will, würde ich weiter einen Imbiss eröffnen.
Warum sind Sternerestaurants denn so wenig lukrativ?
Das liegt eindeutig an der Kostenseite, und hier insbesondere am Wareneinsatz. In einem normalen Restaurant liegt der Einkaufspreis bei etwa 28 bis 35 Prozent des Endpreises. In der Sternegastronomie, wo nur die beste Ware verwendet werden kann, liegt der Anteil leicht bei 45 Prozent und mehr.
Ist die „Ware Mensch“ – sprich: das Personal – auch teurer?
Im Einzelnen nicht. Aber die Gerichte werden aufwendiger gekocht – das heißt, der Personalschlüssel pro Gast ist höher. In einem gutbürgerlichen Restaurant kann man mit vier Köchen möglicherweise 100 Teller rausschicken. In der Spitzengastronomie hat man möglicherweise nur 25 Sitzplätze, aber zehn Köche – und gleichzeitig muss noch stärker auf die Einhaltung der Arbeitszeiten geachtet werden.
Wo liegen die Sternerestaurants inzwischen preislich?
In den deutschen Dreisternerestaurants geht es mittlerweile ab 250 Euro los, einige verlangen auch schon einen Menüpreis über 300 Euro. Dazu kommt häufig noch eine Weinbegleitung. Das sind Summen, die vor ein paar Jahren noch undenkbar in Deutschland waren.
Dass die Spitzenköche jetzt solche Preise durchsetzen können, liegt das an einem Umdenken bei den Menschen? Es hieß doch eigentlich mal, dass dem Markt nach Corona eine Bereinigung bevorstehen würde…
In Deutschland berichten viele Sterneköche, dass ihr Geschäft nach Corona sehr gut angezogen hat. Die Gäste geben gutem Essen einen höheren Stellenwert und sind jetzt bereit, mehr dafür zu zahlen. Vielen hat das offenbar das Restauranterlebnis in der Pandemie sehr gefehlt und sie haben jetzt Gefallen daran gefunden. Auch, und das ist übrigens sehr gut: Wir sehen mehr jüngere Menschen dort als früher. Also: Ich glaube nicht, dass wir ein großflächiges Sterben von Spitzenrestaurants sehen werden.
René Redzepi, der Chef des „Noma“, ist da anderer Meinung. Er glaubt nicht, dass die Menschen bereit seien, mehr als die 450 Euro für ein Menü zu zahlen. Alles andere ginge aber zulasten der Arbeitsbedingungen…
Für die Probleme im „Noma“ gibt es aus meiner Sicht drei Gründe: Das Restaurant liegt mit den 450 Euro international schon ganz oben. Als weltbestes Restaurant zieht es aber ein globales Publikum an. Da kommen also noch Flüge nach Kopenhagen hinzu, Hotelübernachtungen, Weinbegleitung. Da ist man schnell bei über 2000 Euro für zwei Personen. Das ist die eine Hürde. Die zweite ist die Nordic Cuisine selbst. Das „Noma“ serviert teilweise 20 Gänge, und das experimentelle Essen ist auch nicht jedermanns Sache. Für viele ist das ein Erlebnis, das sie sich nur einmal gönnen wollen. Der Anteil an Stammkunden ist im Noma daher geringer als beispielsweise in deutschen Sternerestaurants. Auf Dauer wird das zum Problem.
Und drittens?
Da sehe ich eine Parallele zum Restaurant „El Bulli“ in Katalonien, das lange als weltbestes Restaurant galt. Der Chefkoch Ferran Adriá gilt als Erfinder der Molekularköche und war genau wie Redzepi sehr experimentell unterwegs. Irgendwann hat Adriá gemerkt, dass er nicht jedes Mal eine Kochrevolution erreichen kann. Er ist schlicht an seine Grenzen gestoßen und hat sein Restaurant 2011 geschlossen. Das lag nicht an fehlenden Gästen, sondern am Innovationsdruck. Man muss ständig etwas Neues präsentieren, darf keine Fehler machen. Sterneküche ist auf diesem Niveau wie Hochleistungssport – und den macht man auch nicht ewig. Ich glaube, dass es René Redzepi jetzt ähnlich ergangen ist.
Wo steht die deutsche Spitzengastronomie im Vergleich mit dem „Noma“, „El Bulli“ und anderen internationalen Sterneküchen?
Ich glaube, viele Deutsche wissen gar nicht, wie viele Sternerestaurants wir pro Kopf haben, und wie gut wir sind. Das ist tatsächlich außergewöhnlich im Vergleich mit anderen Ländern. Dazu sind die Preise bei uns noch verhältnismäßig günstig – wenn ich mir jedenfalls die Menüs in Paris und New York anschaue.
Dabei gilt Deutschland nicht gerade als Gourmet-Nation. Warum?
Die Analyse muss schon mit der Politik beginnen – und da können wir zum Beispiel viel von den skandinavischen Ländern lernen. Vor 30 Jahren hat kaum jemand über berühmte Restaurants in Dänemark oder generell in Skandinavien geredet. Aber die Politik und die nordischen Tourismusverbände haben angefangen, das Schlagwort „Nordic Cuisine“ clever zu vermarkten. In Deutschland vermitteln nur wenige Politiker, dass gutes Essen eine gehobene Bedeutung für sie hat. Wenn deutsche Politiker erzählen, was ihr Lieblingsessen ist, dann bleibt nichts hängen. Das ist in Skandinavien ganz anders. Oder schauen wir uns Frankreich an. Da spielt es eine unglaublich wichtige Rolle, welches Essen den Staatsgästen serviert wird. All diese Diskussionen gibt es bei uns gar nicht. Und das zeigt schon die fehlende Unterstützung für die Gastronomie.
Haben es Sternerestaurants in der Stadt leichter als auf dem Land?
Es ist tendenziell etwas leichter, ein Sternerestaurant in der Stadt zu führen. Einfach, weil das Einzugsgebiet größer ist. Das hat sich auch ein bisschen gewandelt, früher waren mehr Spitzengastronomien auf dem Land. Diese Tendenz muss aber nicht für alle gelten. Wir erleben zum Beispiel, dass viele Sternerestaurants am Wochenende schließen. Erst sonntags, was schon undenkbar schien – und jetzt sogar noch samstags. Das geht meiner Meinung nach nur in Großstädten. Für die Restaurants dort ist das eine Möglichkeit, attraktiver zu werden für neue Mitarbeiter. Denn, wie überall, haben wir auch in der Spitzengastronomie einen riesigen Fachkräfteengpass.
Stichwort Personal: Noma-Chef René Redzepi hat früher viele unbezahlte Praktikanten beschäftigt, die auch noch täglich Überstunden leisten mussten. Das System hat er zwar im Oktober abgeschafft – aber trotzdem verbinden viele Menschen genau diese Bedingungen mit der Gastronomie. Inwiefern stimmt dieses Bild noch?
In Deutschland wäre das System so nicht mehr umsetzbar. Da gibt es eine Arbeitszeiterfassung – und im Großen und Ganzen wird sich da auch drangehalten. Die Mitarbeiter würden das ohnehin gar nicht mehr akzeptieren und wechseln. Ich war auch erstaunt über die Berichte aus dem „Noma“. In Deutschland wäre das gar nicht erlaubt, Praktikanten in diesem Umfang unentgeltlich arbeiten zu lassen. Das geht zwar bei Schülerpraktikanten, aber davon reden wir hier nicht.
Und der Ton in der Küche? Ist der noch so rau wie früher?
Nein, überhaupt nicht. Viele aus der Generation, die das noch miterlebt haben, waren maximal abgeschreckt davon – und handhaben das deshalb anders. Sie müssen das aber auch. Der Fachkräftemangel in der Spitzengastronomie hat sich nach Corona noch einmal deutlich verstärkt. Ein junger talentierter Koch hat heute so viele Möglichkeiten – wenn der schlecht behandelt wird, geht er.