Russland wird sich öffnen, Russland wird sich ändern! Noch heute höre ich die Worte meiner Tanten und Onkel, meist kluge Menschen mit klugen Ratschlägen in meiner Kindheit, als ich 1987 überlegte, Russisch oder Latein zu wählen. Da ist ein Mann, sagten sie, der wird alles verändern: Michail Gorbatschow. Ich wählte also Russisch (auch, weil ich keine Lust auf Latein hatte), wie damals rund ein Drittel der Schüler in unserem Gymnasium in Hamburg, das Partnerstadt von Sankt Petersburg ist. Wir sangen russische Lieder und lernten Gedichte, bevor wir einen kyrillischen Buchstaben konnten. Das Alphabet wurde fortan die Geheimschrift von uns „Russen“.
Meine Entscheidung führte zu einer Entdeckungsreise, es war der Beginn einer Faszination und Liebe zu diesem Land, seinen Menschen, der Literatur und Geschichte, die unterschiedlich intensiv war, aber nie unterbrochen wurde. Bis zum 24. Februar 2022. Der Angriff trifft die Ukraine. Aber auch Russland wurde von Wladimir Putin fortgerissen.
Dass ich Russisch lernte, veränderte die Präsenz Russlands in unserer Familie, weil über Jahre immer wieder Gäste und Austauschschüler kamen. Ich liebte die Sprache, die kompliziert und logisch ist, einmal gewann ich sogar einen Sprachwettbewerb, die „Hamburger Russisch-Olympiade“. An den Abenden aßen wir mit russischen Schülern, die zu Gast waren.
„Ich will Moskau-Korrespondent werden“
1993 machte ich im Sommer eine Radtour durch das Kaliningrader Gebiet. Wenn wir uns unter einem Baum ausruhten, kamen Bauern und gaben uns Früchte und Tee. Wir füllten heimlich Wodka in unsere Fahrradflaschen, kauften „Bond Street“-Zigaretten. Auf Straßenmärkten erstand ich Schallplatten der Beatles mit kyrillischen Buchstaben. „Ich will Moskau-Korrespondent werden“, sagte ich irgendwann zu meiner Mutter. Ich wollte Slawistik studieren. „Eine gute Wahl“, sagten mir kluge Tanten und Onkel. „In Russland bieten sich viele Chancen.“
Ich wählte also Slawistik in Heidelberg, entdeckte die russische Literatur, die Schwermut darin, die Grobheit, das Leiden, den Stolz, verschlang Turgenjew und Lermontow, scheiterte an Dostojewskij. In den Sommerferien machte ich Sprachkurse, wohnte in Wohnheimen an der Newa, trank Bier und Wodka mit Erasmus-Studenten, lag auf Wiesen in Parks und starrte in den Himmel der „Weißen Nächte“ von Sankt Petersburg. Wir zogen durch die Bars, gingen in Internetcafés, die überall eröffneten, lasen die „Nowaja Gaseta“ und all die neuen Magazine, die erschienen.
1999 studierte ich in Sankt Petersburg und erlebte die Endzeit des kranken Boris Jelzin. Ich machte mir nie Illusionen, was in den 1990er-Jahren in Russland passiert war. Ich sah die Armut, das Leiden und die Leidensfähigkeit, die Ungleichheit, die Raubzüge der Oligarchen. Im Fernsehen liefen Spots, in denen die Regierung die Bürger anflehte, ihre Steuern zu zahlen. 1998 war in Russland eine Wirtschaftskrise ausgebrochen, der Rubel war abgestürzt, Russland im Grunde zahlungsunfähig. Der Internationale Währungsfonds musste einspringen.
In jenem Winter hatte die Staatliche Universität Sankt Petersburg kaum Geld für die Heizung, wir saßen in Daunenjacken in den Hörsälen. Die Menschen züchteten Gemüse auf ihren Balkonen. Meine Professoren verdienten weniger, als ich als Student zur Verfügung hatte. Den Menschen ging es nicht gut, aber eines hörte nie auf: ihre Gastfreundschaft. Ständig wurde ich irgendwo eingeladen, und die Tische waren voll, mit dem Besten, was man sich leisten konnte.
Als die Nato 1999 im Kosovo eingriff, kippte die Stimmung, auch in vielen Gesprächen. Ich erinnere mich, wie Kommilitonen erregt mit ihren Professoren diskutierten, Jelzin schäumte über „den Fehler“.
Und so begann der Aufstieg eines Mannes, der eine „Diktatur des Gesetzes“ verkündete und das Chaos beendete. Zunächst bestimmt, dann zunehmend brutaler, aber der Wohlstand stieg, auch in der Mittelschicht. Putin ist der richtige Mann für eine solche Zeit, sagte ich oft. Was ich erst später sah: wie er die Gesellschaft aushöhlte, wie das Russland erstarb, das gerade erst angefangen hatte zu leben. Was ich nicht ahnte: dass er einmal einer der gefährlichsten Männer der Welt werden würde, der den Krieg zurück nach Europa brachte.
Abschied vom Russland der Perestrojka
Hat der Westen etwas übersehen? Waren wir zu arrogant, mussten wir uns als Sieger der Geschichte aufspielen? Was ist dran an den „Demütigungen“ Russlands? Da ist etwas dran, aber nichts, was einen Krieg rechtfertigt. Es wäre auch falsch, sagt der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, das Narrativ der „Kränkungsgeschichte“ zu übernehmen. Putin folge der Logik eines Imperiums, das das Selbstbestimmungsrecht von Völkern ablehnt. Und nun sehen wir, dass die Ukrainer um ihr Leben kämpfen, um nicht so leben zu müssen, wie man in Putins Russland lebt.
Der Traum, in Moskau zu arbeiten, hat sich nie erfüllt, aber irgendwann wollte ich den Traum auch nicht mehr leben. Russland wurde mir fremd, nicht die Menschen, aber das Regime, das erneut eine Kleptokratie errichtete, die nach dem Gesetz der Mafia herrscht.
Was ich in meinem Leben nie gehabt hatte, war diese Angst vor Russland, die nun wieder aufkeimt. Ich kenne nur offene Türen, Gespräche mit Tee und danach Wodka, den ich oft heimlich unter den Tisch oder über meine Schulter kippte. Wenn ich sagte, dass ich aus Deutschland komme, hellten sich Gesichter auf, wurden Hände geschüttelt und Schultern geklopft, und nie, nie kam mir ein Russe mit den Nazis.
Am Donnerstagmorgen des 24. Februars kämpfte ich mit den Tränen, nicht nur weil Krieg war, weil Panzer durch Straßen rollten, die aussehen wie in Berlin, Prag oder Budapest. Nicht nur weil ich an all die Väter und Mütter dachte, die ihre Kinder in Keller statt zur Schule brachten. Sondern auch weil an dem Tag etwas zerbrach und starb. Eine Idee, die schon lange Risse bekommen hatte, die bekämpft worden war, die immer ein Ideal war, oft verklärt und unvollkommen: Es war die Idee von 1989, dass Russland sich öffnet, dass die Welt sich öffnet, dass sie zusammenwächst, dass sie besser dran ist, wenn sie zusammenarbeitet. Frieden in Europa war für uns selbstverständlich. Warschau, Tallin, Riga, Sankt Petersburg, diese Städte wurden für unsere Generation Ziele für Austausche und Kurztrips, die wir mit Billigfliegern erreichten und wo wir mit den Menschen verschmolzen.
Und nun fliehen Menschen aus Kiew wie aus Mogadischu. Nun ist Russland Aggressor. Nicht die Menschen, die dort leben, nicht die, die ich in meinem Gedächtnis habe, nicht das ganze Land, das in „ein Nichts“ steuert, wie Hunderte russische Wissenschaftler in einem offenen Brief geschrieben haben. Die Autoren leben davon, dass die Welt zusammenarbeitet. „Mit der Entfesselung des Krieges hat sich Russland zu internationaler Isolierung verurteilt“, klagen sie, „zu einem ausgestoßenen Land.“ Und diese Isolation ist eine Katastrophe. Putin hat auch Russland als Geisel genommen. Solange er an der Macht ist, wird es kaum eine Verständigung mit dem Westen geben können. Wir wissen nun, dass er zu allem bereit ist.
Wir wissen nicht, wie eisern der Vorhang sein wird, der sich über diesen Kontinent senkt, ob der Stacheldraht sichtbar oder unsichtbar sein wird, ob der Krieg bald endet oder erst richtig losgeht. Aber wir müssen Abschied nehmen von dem Russland, das wir ab der Perestrojka entdecken und erleben durften. Es verschwindet hinter den Tiraden des Tyrannen, der mit Atombomben droht und im Jahr 2022 Panzer durch Städte in Europa rollen lässt. Wir müssen vorerst Abschied nehmen und dürfen nur hoffen, dass es bald einen Menschen gibt, der allen Hoffnung macht, bei dem kluge Tanten und Onkel sagen, dass alles sich ändern wird.