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Lars Vollmer Agile Unternehmen: Der Frust der Agilisten

Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor.
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor.
© André Bakker
Agilität schreiben sich viele Unternehmen auf die Fahnen, doch bei der Umsetzung hapert es. Und daran sind die Agilisten mit ihrer Methodenreiterei nicht ganz unschuldig

Eigentlich müssten sie jubeln, die vielen beseelten Agilisten da draußen: Agilität als Wunschprojektion und gleichsam Megakonzept ist im Mainstream der Unternehmensführung angekommen – wahrscheinlich auch in Ihrem Unternehmen.

Kritische Geister behaupten sogar, die agile Welle hätte ihren Peak bereits überschritten. Tatsache ist jedenfalls, dass die meisten Agilisten – zumindest die meisten, die ich kenne – eben nicht jubeln. Im Gegenteil: Viele sind zutiefst frustriert.

Und die Top-Manager ebenfalls.

Was läuft da schief?

Unerhört

Agilisten nenne ich die Anwälte von Agilität in den Unternehmen. Diejenigen, die sich mit der Idee dahinter detailliert auseinandergesetzt und das agile Manifest tatsächlich gelesen haben. Aus diesen Kreisen erreichen mich vermehrt Vortragsanfragen mit dem Tenor „Vielleicht können SIE unserem Top-Management mal verständlich machen, woran es liegt, dass die Umsetzung bei uns nicht so funktioniert wie erhofft. Uns sind die Gründe sonnenklar, doch wir stoßen auf taube Ohren.“

Mit beidem haben die Agilisten aus meiner Sicht recht: Erstens erkennen sie tatsächlich die Ursache, warum die agile Transformation in ihren Unternehmen scheitert, und zweitens werden sie nicht gehört. Ihr Frust ist also doppelt verständlich.

Lassen Sie mich zunächst die Ursache für das Scheitern analysieren. Welche Tragweite diese Analyse hat, können Sie an unzähligen Studien zum Scheitern von Transformationsvorhaben ablesen: Die Quote liegt – sollten die Studien denn stimmen – seit Jahrzehnten weitgehend unverändert bei 70 Prozent. Und ich behaupte mal, dass in den vergangenen fünf bis zehn Jahren ein erheblicher Anteil davon auf die Kappe von agilen Transformationsprojekten geht.

Deren Scheitern wundert mich nicht.

Unerkannt

Die Agilität, wie sie 2001 von 17 renommierten Software-Entwicklern in Utah in ein Manifest gegossen worden ist, ist wie ein geentertes Schiff: Sie ist gekapert worden und segelt heute in den meisten Fällen unter falscher Flagge. Die gelebte „Agilität“ hat mit der agilen Idee, die hinter dem Manifest steht, oft nicht mehr viel zu tun. Der Begriff hat ein Eigenleben entwickelt.

Die Kaperung an sich geschah in bester Absicht, denn die Geschichte lief so: Die Erfolge, die mit der agilen Arbeitsweise zu erzielen sind, waren irgendwann so offensichtlich, dass auch das traditionelle Management darauf aufmerksam wurde.

Was folgte, war eine kulturelle Vereinnahmung. Bildlich gesprochen klatschte die klassische Managementkultur in die Hände und sagte freudig zur agilen Idee: „Großartig, was du da für Ansätze hast. Und um wie viel großartiger werden die Ergebnisse erst werden, wenn wir das Ganze mit meinen bewährten Methoden anreichern.“

Ich will Ihnen ein Beispiel schildern, wie eine solche Vereinnahmung im Unternehmen abläuft.

Unerfahren

Wie Sie sicher wissen, gehen die agilen Prinzipien von Teams aus (sie werden oft „Scrum-Teams“ genannt), die ohne formale Macht auskommen. Denn wenn es darum geht, komplexe Kundenproblemen zu lösen – also Probleme, für deren Lösung es kein ausreichendes Wissen gibt – steht die formale Macht den erforderlichen Ideen im Weg: Sie wird zur falschen Referenz. Die Teammitglieder machen sich eher einen Kopf, was der Chef gut findet, als darum, was der Kunde braucht. Der Blick nach innen verstellt den Blick nach außen.

Dieser Blick nach außen ist jedoch entscheidend, wenn es um die Lösung komplexer Probleme geht. Daher muss in Teams mit solchen Aufgaben Gestaltungsraum für informelle Macht, also für Autorität, geschaffen werden. So kann Menschen Ansehen für gute Ideen spendiert werden. Freiwillig. Und das gelingt kaum, solange die formale Macht intakt ist.

Doch wenn es um die Abschaffung eben dieser formalen Macht geht, bekommt die klassische Managementkultur ein nervöses Zucken. Könnte sie sprechen, würde sie freundlich-bestimmt sagen: „Mag sein, dass es grundsätzlich so besser ginge. Aber wir müssen unsere Leute darauf erst einmal vorbereiten. Die können das noch nicht, sind noch nicht reif dafür. Bis die so weit sind, stecken wir erst mal unseren Abteilungsleiter rein, damit der für Alignment sorgt.“

Mit dieser Entscheidung wird den Teams von Anfang an ein großer Teil ihrer Leistungsfähigkeit entzogen. Ich will nicht behaupten, dass diese Teams deshalb vollkommen unnütz sind oder nichts geschafft bekommen. Aber ihr volles Potenzial kriegen sie nicht auf die Straße. Ihre Ergebnisse sind oft weder deutlich schneller noch besser als die der konventionellen Abteilungsorganisation.

Entsprechend gefrustet sind alle Beteiligten, von der Geschäftsleitung bis zu den Teammitgliedern.

Ungemanagt

Die Agilisten stehen kopfschüttelnd neben dieser Situation. Sie wissen: Was im Agilen Manifest an Werten und Prinzipien festgehalten wurde, ist per se ein Gegenentwurf zu den Grundideen des klassischen tayloristischen Managements.

Die Autoren wollten damals dezidiert KEINE Regeln und KEINE Blaupause niederlegen. Sie hielten nur fest, wie ihrer Beobachtung nach moderne, der Komplexität der Sache angepasste Software-Entwicklung in der Praxis funktioniert.

Dass die Agilität inzwischen dennoch wie ein Backrezept gehandelt wird, liegt nur zum Teil an der erheblichen Beharrungskraft, die so eine etablierte Unternehmenskultur hat. Die Agilisten selbst haben zu dieser Entwicklung beigetragen.

Abgestempelt

Viele Agilisten tragen intern einen Stempel. Auf diesem Stempel stehen so unvorteilhafte Bezeichnungen wie „Dogmat“ oder „agiler Methoden-Fuzzi“.

Diesen Stempel haben bei weitem nicht alle Agilisten verdient. Aber um ehrlich zu sein: Ich kenne auch eine ganze Reihe an Vertretern, bei denen er durchaus gerechtfertigt ist.

Auf den unterschiedlichsten agilen Konferenzen, auf denen ich gesprochen habe, hörte ich in den kleinen Sessions oder im Kaffeegespräch „agile Glaubenswächter“ sich leidenschaftlich darüber streiten, ob das ideale Scrum-Team nun aus fünf oder doch sieben Personen bestünde. Oder ob man das sogenannte Standup-Meeting wirklich im Stehen abhalten müsse oder ob man sich auch hinsetzen dürfe. Ob das Board vertikal oder horizontal aufgebaut werden müsse.

Das sind natürlich alles Fragen, die im Operativen mitbedacht werden müssen. Doch mit dieser Fokussierung wird die agile Idee auf einen agilen Methodenkoffer herunter gekocht. Und der Nährboden für Streit wird gezüchtet, was denn nun das „richtige Agil“ ist. Es bilden sich verfeindete Lager, die sich gegenseitig vorwerfen, Agilität „nicht verstanden zu haben“.

Und als Referenz dient immer die Methode. Nicht die Idee. Nicht die Funktionalität. Nicht die Geschwindigkeit. Nicht die Wertschöpfung.

Abgemeldet

Verstärkt wird der Eindruck der Methodenreiterei noch, wenn die Agilisten immer nur noch dann zu Wort kommen – oder sich auch nur dann zu Wort melden –, wo es um Detailfragen der Methode geht.

Kein Wunder finden sie kaum noch Gehör. Oder – Hand aufs Herz – wie stark hören Sie bei sich im Unternehmen noch auf Ihre Agilisten?

PS: Wenn sich Agilisten auf eines hervorragend verstehen, dann ist es, sich untereinander in „Communities of Practice“ zu vernetzen. Die machen sich auf großartige Weise gegenseitig besser – auch deshalb sind Agilisten oft so toll ausgebildete Leute. Deshalb wäre mein Vorschlag zur Frustbewältigung, dass sich die Agilisten mit den zahlreichen Lean-Management-Leuten zusammenfinden: Jenen ist nämlich vor 10 oder 20 Jahren das Tupfengleiche passiert wie den Agilisten heute. Vielleicht können sie sich in solchen „Communities of Fate“ gegenseitig helfen. ;)

Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den aktuellen Krisen die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen.

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