Nun ist es also vollbracht: Elon Musk hat Twitter gekauft, die Hälfte der Belegschaft von heute auf morgen entlassen, manche wieder zurückgeholt, eine Änderung der Sperr-Politik des Unternehmens sowie die Monetarisierung der Profilverifikation angekündigt. Und jeder dieser Vorgänge war mit unendlich viel Bohei verbunden.
Eines ist mir an der öffentlichen Debatte dazu mal wieder sauer aufgestoßen.
#LeavingTwitter
Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, aber ich konnte mich in den letzten Tagen kaum retten vor den immer gleichen Posts: Irgendjemand fühlte sich bemüßigt, zu verkünden, dass sie oder er seinen persönlichen Twitter-Account gelöscht habe. Ich habe mir daraufhin überlegt, wie viele Dienste und Foren ich in den letzten Jahren wohl verlassen habe und das ganz ohne Getöse – die Zahl geht auf keine Kuhhaut.
Hinter der öffentlich inszenierten Twitter-Flucht steckt also etwas anderes als die nüchterne Entscheidung, die eigene Zeit und die eigenen Daten andernorts zu investieren. Ganz offensichtlich geht es hier um die Zurschaustellung der moralischen Empörung über den neuen Twitter-Chef.
Vom Posterboy zum Eiskönig
Elon Musk hat in den Medien in den letzen Wochen einen erstaunlichen Wandel durchgemacht: Seit bekannt wurde, dass er Twitter kaufen will, verwandelte er sich im Ansehen vom Unternehmer-Superstar zum Abziehbild eines machtbesessenen, eiskalten Kapitalisten – mit ähnlich fiesen Charakterzügen wie die Bösen aus Erfolgsserien wie „Game of Thrones“.
Der scheinbar logischer Schluss aus dem neuen Bild: Wenn so ein abgrundtief Böser Twitter kauft, können dahinter nur pure Macht- und Geldinteressen stehen. Das radikale Vorgehen während seiner ersten Tagen als Chef schien vielen wie der letzte Beweis für die Richtigkeit des Bildes.
Dagegen möchte ich gleich zweierlei einwenden.
Mutter Teresa im Silicon Valley
Erstens war Twitter auch vorher kein ehrenamtlich getragenes, genossenschaftliches Kollektiv. Es wurde nicht gegründet, um wie Mutter Teresa in den Dienste des Guten zu treten, sondern um eines Tages Gewinn abzuwerfen. Daran hat sich mit der Übernahme durch Elon Musk vermutlich nichts geändert.
Zweitens empfinde ich es als moralische Zweifelhaftigkeit, wenn Menschen ihre persönlichen Vorstellungen von guter Unternehmensführung auf eine Organisation übertragen, von der sie keine Ahnung haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten, die sich in deutschen Medien echauffieren, weder wissen, wie Twitter tatsächlich organisiert ist, noch welche Kultur dort herrscht oder was im Silicon Valley üblich ist.
Berlin Mitte, Unterföhring und das Silicon Valley
Trotz dieser völligen Ahnungslosigkeit fühlt sich jeder aufgefordert, aus seinen Erfahrungen aus Berlin Mitte oder München Unterföhring heraus ein Urteil über die Vorgänge im Silicon Valley zu fällen. Würden dieselben Menschen sagen: „Ich hätte das nicht so gemacht.“ – vollkommen einverstanden! Jedoch eine moralische Verdammung auszusprechen, halte ich für anmaßend.
Solche Vorverurteilungen sind darüber hinaus grundsätzlich hinderlich, weil sie blind machen für die Realität. Und das, was ich im Spiegel meiner eigenen Vorurteile erkennen kann, ist bestenfalls mein eigener moralischer Wertekompass.
Dabei gibt es gerade aus unternehmerischer Sicht gute Gründe, Elon Musks Auftreten bei Twitter mit Neugier zu verfolgen.
44 Mrd. Dollar für ein Häkchen?
So warte ich ja gespannt auf den Moment, in dem Elon Musk seine wahre Strategie hinter diesem Kauf enthüllt. Was will er mit Twitter wirklich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht zumindest eine zusätzliche Strategie mit diesem Kauf verfolgt. 44 Mrd. Dollar gibt schließlich noch nicht einmal der reichste Mann der Welt zum Spaß aus. Um blaue oder weiße Häkchen geht es ihm jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit nicht.
Er hat also eine Idee dahinter. Vielleicht was mit Krypton? Ich weiß es nicht. Aber da seine Ideen bisher immer groß, aber nicht sofort ersichtlich waren, wird es wohl auch dieses Mal so sein. Ob diese Idee und ihre Umsetzung erfolgreich ist oder ob ich sie mögen werde, lasse ich so lange dahin gestellt. Ich bin weder sein Generalkritiker noch ein Musk-Fanboy.
Gespannt bin ich trotzdem: Elon Musk ist definitiv ein außergewöhnlicher Unternehmer. Einiges, was er anpackt, setzt er in den Sand, einiges wird richtig erfolgreich. Mal sehen, was diesmal daraus wird.
Mindestens genauso spannend finde ich die Beobachtung, welchen Einfluss Musks rustikale Grätsche auf die Organisation Twitter haben wird.
Die Kulturillusion
Ich kann ja nur vermuten, was Elon Musk zu der Massenentlassung bewegt hat. Mag sein, dass es aus rein wirtschaftlichen Überlegungen heraus passiert ist. Gut möglich aber auch, dass ihm die Kultur in der Organisation nicht gepasst hat. Schließlich soll es in der Vergangenheit in der Belegschaft Bestrebungen gegeben haben, Twitter in eine Art Verantwortungseigentum zu überführen. Das spricht dafür, dass bisher eine kollektivistische Kultur vorherrschte.
Da Elon Musk nach meinem Dafürhalten ein sehr individualistisch geprägter Mensch ist, hat er daran wohl keine Freude. Dann hat er den Kahlschlag vielleicht durchgeführt, um eine individualistische Leistungskultur zu etablieren.
Wenn das der Fall ist, ist er einer Illusion unterlegen – der Illusion, dass Kultur an Menschen klebt. Wäre das so, würde es genügen, die Menschen zu ersetzen, um die Kultur in einem Unternehmen zu drehen. Tatsächlich aber ist die Kultur einer Organisation weitestgehend unabhängig von den Menschen.
Unternehmenskultur ist vielmehr die Erinnerung an das, was sich in das „Gedächtnis“ des Unternehmens eingebrannt hat.
In ewiger Erinnerung
Zwar hat Elon Musk sicher für eine solche einschneidende Erinnerung gesorgt: Mit der Massenentlastung hat er definitiv eine erhebliche Irritation ausgelöst. Und diese Irritation wird im Gedächtnis des Unternehmens bleiben, selbst wenn irgendwann einmal diejenigen, die sie selbst miterlebt haben, nicht mehr da sind. Damit hat Elon Musk zumindest eines sicher erreicht: Die Kultur von Twitter wird sich verändern.
Ob er allerdings sein Ziel erreicht, weil sich die Kultur im gewünschten Sinne verändert? Das steht auf einem anderen Blatt. Das kann selbst ein Elon Musk nicht voraussagen, denn dieser Prozess ist weder steuerbar noch prognostizierbar. Er ist kontingent. Und deshalb ist es für uns „Zuschauer“ spannend zu beobachten, wie Twitter sich verändern wird.
Willkommen in der Masterclass
Ich als Unternehmer fühle mich jedenfalls in eine Art Masterclass der Unternehmensführung versetzt, in der ich eine ungewöhnliche Case Study mitverfolgen darf. Von dessen Verlauf und Ergebnis kann ich nur lernen – egal wie es ausgeht.
In jedem Fall ziehe ich diese „Masterclass-Sichtweise“ auf Elon Musks Wirken der „Game-of-Thrones-Perspektive“ vor. Sie scheint mir wesentlich hilfreicher.
Und Sie?