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Gastbeitrag Warum wir einen neuen Marshallplan brauchen

Erfolgsgeschichte: Im Juni feierten Kanzlerin Angela Merkel und der frühere US-Außenminister Henry Kissinger 70 Jahre Marshallplan
Erfolgsgeschichte: Im Juni feierten Kanzlerin Angela Merkel und der frühere US-Außenminister Henry Kissinger 70 Jahre Marshallplan
© Getty Images
Alles soll wachsen: die Wirtschaft, die Städte, der Wohlstand, das eigene Glück. Auf Kosten der Natur, des Klimas, der Staatsschulden. Deshalb brauchen wir einen Marshallplan für neues Denken, fordert Sibylle Barden-Fürchtenicht in ihrem Gastbeitrag
Sibylle Barden
Sibylle Barden-Fürchtenicht

Im Herbst 2018 haben Staaten und Privatsektor weltweit mehr Schulden angehäuft als vor Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008. Laut dem Institute of International Finance (IIF), dem Weltbankenverband, liegen sie bei gigantischen 247.000 Mrd. Dollar, was 318 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung entspricht. Allein die Notenbanken der Euro-Partner wie Italien, Spanien oder Frankreich schulden der Bundesbank fast eine Billion Euro – so viel wie nie zuvor. Tendenz weiter steigend. Eine Sicherheit für dieses Geld gibt es nicht.

Sollte unser Wirtschaftswachstum nachlassen, droht diese Schuldenblase zu platzen. Es braucht keinen Experten, um uns vor dem Ausbruch einer neuen Finanzkrise zu warnen. Diese neue Finanzkrise hätte das Potenzial, unser Wirtschaftssystem zum Einsturz zu bringen, samt Euro und dem Leben, wie wir es kennen. Zudem stellt sich die Frage: Wie viel Wachstum können wir uns leisten, wenn dieses gleichzeitig unsere Lebensgrundlage vernichtet?

Böden, Wälder und Wasser werden von uns zerstört, die Artenvielfalt der Erde reduziert. Das Genfer Weltwirtschaftsforum spricht in seiner Studie „Die Vierte Industrielle Revolution“ davon, dass eine von fünf Arten derzeit vom Aussterben bedroht ist. Mehr als 90 Prozent aller Fische und Vögel haben Plastikpartikel in ihren Mägen, zeitgleich holzen wir im Jahr 2016 fast 30 Millionen Hektar Wald ab – eine Rekordzahl. Warum? Weil immer alles wachsen muß: die Wirtschaft, die Städte, der Wohlstand, das eigene Glück. Auf Kosten der Natur.

Die Welt braucht dringend einen Marshallplan

Die Welt steckt fest in der selbstgemachten Klimakrise, in der selbstgemachten Staatsschuldenkrise, der damit einhergehenden Wertekrise, der Flüchtlingskrise, der Armutskrise. Umso absurder scheint es, dass wir bei der Lösungssuche die immergleichen Personen zu den immergleichen Themen befragen und uns mit den immergleichen falschen Antworten zufrieden geben.

Wir brauchen einen Marshallplan, ein Konjunkturprogramm für neues Denken, für neues Arbeiten, für neue Formen des Miteinanders, für eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik, kurz, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsauftrag.

Die Amerikaner haben 1948 mit ihrem Konjunkturprogramm für Westeuropa in erster Linie für eine Finanzspritze gesorgt, um die Wirtschaft anzukurbeln – aber sie haben auch ein Signal gesetzt. Ein Signal, das für einen positiven Stimmungswechsel in der Gesellschaft gesorgt hatte: „Der Krieg ist vorbei – jetzt krempeln wie die Ärmel hoch und gestalten eine bessere Zukunft.“

Einen Stimmungswandel brauchen wir heute wieder

Gerade in Deutschland gibt es so viele Fragen: Warum entwickeln wir nicht das erste Krebsheilmittel? Warum fährt der erste Tesla nicht aus den Toren von Rüsselsheim oder Ingolstadt? Wo ist das europäische Google? Das deutsche Silicon Valley für Künstliche Intelligenz? Warum lebt jeder fünfte Deutsche in Armut? Weshalb ist die Antwort des Einzelhandels nicht ein noch besseres Amazon? Wer bremst den Fortschritt? Die Unternehmen? Die Zivilbevölkerung? Die Politik?

Eine erste Antwort bekomme ich in der Financial Times, die vor kurzem fragte: „Kann Deutschland den iPhone-Moment überleben?“, und die Antwort gleich mitlieferte: „Die Bedeutsamkeit des iPhones, als es 2007 erstmals zum Verkauf angeboten wurde, bestand nicht darin, daß es ein besseres Telefon mit einem überlegenen MP3-Player und einer Spitzenkamera war. Entscheidend war auch nicht der Touchscreen, das große Display oder die vielen Apps. Entscheidend war, daß all diese Dinge in einem einzigen Gerät zusammenkamen.

Es werden nicht die Deutschen sein

Dieser iPhone-Moment ist für Autos noch nicht gekommen. Aber es ist leicht vorzustellen, wie er aussehen wird: Ein elektrisches, sich selbst steuerndes ‘Wohnzimmer auf Rädern', sicher verbunden mit dem World Wide Web , das deutlich mehr geteilt wird unter den Nutzern, als das sie es kaufen. Es ist noch unklar, wer dieses Auto bauen wird, aber die Investoren an der Börse sind sich einig: „Es werden nicht die Deutschen sein.“

Der frühere Opel-Chef Karl-Thomas Neumann scheint dieses Fazit zu unterstreichen. Laut Handelsblatt sagt Neumann, dass die deutsche Autoindustrie schlecht aufgestellt sei, um den Wandel zur Elektromobilität zu schaffen. „Die Spitze der deutschen Branche kann nicht offen sagen, dass die Zukunft elektrisch ist. Die Auto-Vorstandschefs trügen Verantwortung für hunderttausende Arbeitsplätze und für Milliarden-Investitionen in bestehende Fabriken. Es ist eben sehr, sehr schwer, den ganzen Tag sehr effizient zu sein und sein altes Geschäft mit vollem Ehrgeiz weiter zu betreiben und sich abends um fünf Uhr zum Start-up-Unternehmer zu machen.“

Wann waren wir zuletzt Vorreiter für neue Standards, neue Industrien, neue Ideen?

Wie zum Beispiel die Idee von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des Internets. Auf der Web-Summit in Lissabon forderte er „eine Magna Carta fürs Netz“. Die „Vernetzung“, resümierte er, „hat nicht automatisch zu mehr Verständigung geführt.“ Dann lieferte er eine Lösung zum Problem. Und stellt eine Art Gesellschaftsvertrag fürs Internet vor, der für Politik, Wirtschaft und Zivilbevölkerung bindend sein soll.

Seine Idee, von Wladiwostok bis Punjabi wohlwollend aufgenommen, beinhaltet (grob zusammengefaßt): Regierungen müssen Internet für alle schaffen, niemanden ausschließen und den Datenschutz als fundamentales Recht anerkennnen. Firmen sollen den Zugang bezahlbar gestalten, den Datenschutz anerkennen und Technologien entwickeln, die das Beste im Menschen fördern. Der Webnutzer soll sich respektvoll verhalten, die Menschenwürde achten und sich für ein offenes Web einsetzen.

Die „Magna Carta fürs Netz“ soll kommen

Man spürt das Aufatmen. Endlich bietet jemand eine klare Lösung für ein wichtiges Problem. Google, Facebook und die französische Regierung haben sofort ihre Unterstützung angeboten; was bedeutet, die „Magna Carta fürs Netz“ hat gute Chancen, umgesetzt zu werden.

Warum kommt der Vorschlag nicht von der Europäischen Union, Deutschland oder dem Digitalministerium ? Ach richtig, wir haben keines. Ist der deutsche Staat Motor der digitalen Transformation oder Verwalter des Abgesangs? Man wünscht sich von der künftigen Regierung, dass sie die Tür sehr weit aufmacht, wenn die Zukunft anklopft.

Sibylle Barden-Fürchtenicht ist Publizistin. Seit Ausbruch der globalen Finanzkrise richtet sie ihren Fokus auf die Disruption politischer, institutioneller und sozialer Werte. In ihrem aktuellen Buch "Wie wollen wir leben?" sucht die Autorin Antworten darauf, wie unsere Gesellschaft auf die Krisen der Gegenwart reagieren soll.

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