Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Autor. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Zurück an die Arbeit - Wie aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden", Linde Verlag, Februar 2016
Ich passe ja von jeher, ohne mich groß anzustrengen, in mehrere Raster. Im Café bestelle ich Kaffee – nicht mit Sojamilch, nicht mit Milchschaum, ohne Flavour-Firlefanz. Wenn ich ein sonniges Plätzchen suche, dann gehe ich nach Barcelona – nicht auf die Malediven, nicht in ein Fünf-Sterne-Resort, sicher nicht in ein Solarium. Aber wehe, ich – oder auch Sie – fallen einmal aus dem üblichen, erwartbaren Raster heraus! Dann bringen wir ganze Geschäftsmodelle ins Wanken.
Vom Umtausch ausgeschlossen
Wie vergangenen Sommer, als ich für eine große Konferenz Berlin besuchte. Um in der Mittagspause den Businessclowns um mich herum zu entgehen, schlenderte ich durch ein Einkaufscenter. Da überfiel mich doch tatsächlich meine „Weiblichkeit“: Im Schaufenster eines Computerladens lagen neben den typischen Mäusen, USB-Sticks und Tastaturen auch drei äußerst schmucke Businesstaschen. Und wie der Zufall es will, gefiel mir eine davon auch noch außerordentlich gut und ich brauchte ohnehin ein neues Modell.
Also nichts wie rein in den Shop und das gute Stück aus der Nähe betrachtet: Schick, praktisch geschnitten, aber … Da ich viel auf Reisen bin, müssen meine Taschen prinzipiell diesen wundervollen Schlitz auf der Rückseite haben, damit ich sie an meinem Reisekoffer befestigen kann. Und dieser Schlitz hier kam mir doch etwas zu schmal vor. Nun gut: „Verzeihung, können Sie mir mal kurz helfen?“, setzte ich an und schilderte dem Verkäufer im Laden mein Dilemma. Ob ich die Tasche notfalls umtauschen könne? Na klar. Ob ich sie in dem Fall dann bitte als Geschäftskunde kaufen könne? Schon, aber dann ohne Umtauschmöglichkeit. Wie bitte?
Woher kommt die Policy?
Der junge Mann mir gegenüber war nach Raster vorgegangen: dreißig Tage Umtauschrecht für Privatkunden, keine Umtauschmöglichkeit für Geschäftskunden. Weil zweitere die Geräte (!) intensiver nutzten und entsprechend unveräußerbar zurückgäben.
Ich, dem ein Umtauschrecht von 30 Minuten völlig genügt hätte – kurz ins Hotel, den Sitz der Tasche auf dem Koffer getestet und zurück –, fiel aus diesem Raster heraus. Und schon stand der arme Verkäufer vor einem immensen Problem.
Dafür möchte ich ihm nun gar keinen Vorwurf machen. Im Gegenteil, er hat mich mit ausgenommener Freundlichkeit bedient. Und doch clashten in seiner Welt gerade zwei Referenzen: Der Wunsch, mich, seinen Kunden, ordentlich zu bedienen. Und die Policy, die seine Geschäftsführung ihm auferlegt hatte. Ein tragisches und gleichsam wunderbares Beispiel für ein Thema, über das ich regelmäßig in Vorträgen spreche: interne und externe Referenzen.
Die externe Referenz, das ist das, was auf dem Markt der Kunden, Kapitalgeber oder auch Arbeitnehmer passiert. Die interne Referenz spiegelt wieder, was das Unternehmen will.
Nun dürfte recht leicht ersichtlich sein, dass es die externe Referenz ist, die ein Unternehmen nicht aus dem Blick verlieren darf. Schließlich zahlt der Kunde für die Wertschöpfung – oder lässt es bleiben. Man sollte meinen, da verlieren interne Referenzen wie blockierende Policies rasch an Gewicht. Leider nein.
Erschüttertes Policy-Kartenhaus
Denn meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass Policies, Regelungen, interne Vorgaben und Referenzen häufig daraus entstehen, dass ein Unternehmen einmal richtig auf die Nase gefallen ist. Zum Beispiel indem fahrlässige Geschäftskunden ramponierte Produkte zurückbrachten und von ihrem Umtauschrecht Gebrauch machten. Und wie reagiert der tayloristisch geprägte Arbeitsmensch auf eine solch missliche Lage? Ganz klar: Er will das Problem mit der externen Referenz durch die Übersetzung in eine interne lösen. Deswegen macht er ein paar Listen, entwickelt eine interne Lösung und übersetzt die Problematik auch gleich noch in interne Kennzahlen, Ziele, Vorgesetztenvorgaben und so weiter.
Das Ziel: den Kunden fortan zu 100 Prozent zufriedenzustellen, ohne dabei selbst ins Straucheln zu geraten. Und selbst ohne eine vorausgegangene Bauchlandung entstehen interne Referenzen aus einem ganz normalen Mechanismus heraus: Es ist schlicht impraktikabel, dass jeder einzelne Mitarbeiter sich mit den externen Referenzen auseinandersetzt. Also werden ein paar wenige Mitarbeiter eingesetzt, die die Übersetzung übernehmen. Dieses System funktioniert hervorragend – solange sich die externen Referenzen, die Kundenwünsche, langsam oder zumindest nicht oft ändern.
Das klappt, wie Sie sehen, exakt so lange, bis der Vollmer in den Laden spaziert. Ein Wunsch außerhalb des Rasters – und schon stürzt das Policy-Kartenhaus in sich zusammen. Mit dem Verkäufer im Computerladen kam ich überein, die Tasche als Privatperson zu kaufen. Würde sie auf meinen Koffer passen, würde ich sie dank meines Umtauschrechts zurückgeben und anschließend als Geschäftskunde kaufen. Sie merken selbst, wie lächerlich diese Scharade war, und auch dem Verkäufer war sie sichtlich unangenehm. Denn da stand ein Kunde in seinem ansonsten leeren Laden, der bereit war, eine fast schon obszöne Summe für ein Stück Leder auszugeben – und er konnte ihn aufgrund der internen Referenzen seines Unternehmens nicht kundengerecht bedienen. Das hätte an einem anderen Tag auch schiefgehen können – für das Geschäft.
Kundenservice vs. interne Richtlinien
Externe Referenzen immer noch nach Rastern zu behandeln, wird zum Problem in einer Welt, in der die Dynamik in Geschäften sich kontinuierlich erhöht und folglich vermehrt Überraschungen entstehen. Ändern sich Kundenwünsche, deckt die Standardpolicy sie augenblicklich nicht mehr ab und es entsteht unweigerlich ein interner Wasserkopf: Sie brauchen mehr und mehr Leute für die Übersetzung der externen in interne Referenzen. Oder Sie überlassen diese Aufgabe Ihren Mitarbeitern, die dann auf internen Referenzen sitzen, die nicht zu den Problemen passen, die sie gerade vor der Brust haben.
Der Zwiespalt, ja, die Schizophrenie, die daraus entsteht, ist mehr als unsinnig: Ihre Mitarbeiter möchten dem Kunden etwas Gutes tun, verstoßen damit aber gegen interne Richtlinien. Sie hören sich entweder die Schimpftiraden des Kunden an oder kommen ihm entgegen, während sie im Hinterkopf permanent Angst haben, dabei erwischt zu werden. Wenn diese Zerrissenheit zwischen zwei Polen nicht psychisch belastet, dann wäre mein Erwartungsraster zutiefst erschüttert!
Unternehmen, die nicht an dieser Schizophrenie erkranken möchten, müssen andere Reaktionsmöglichkeiten erdenken. Im Falle meines Berliner Computerladens hätte die Übertragung der Entscheidungskompetenz auf den Verkäufer Genüge getan, um mich in meinem speziellen Fall mit dreißig Minuten Umtauschrecht ziehen zu lassen. Oder man hätte die Umtauschregeln zugunsten von praktikablen Prinzipien ersetzen können, um Eigenverantwortung und Kundennähe überhaupt zu erlauben. Denn Entscheidungen, die sich sinnvoll an externen Referenzen orientieren, finden in der Peripherie des Unternehmens statt. Nah am Kunden.
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