Lars Vollmer ist Unternehmensberater, Vortragsredner und Autor. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Wrong Turn - Warum Führungskräfte in komplexen Situationen versagen", Orell Füssli April 2014
„Winterkorn ist an der Konzernspitze nicht mehr tragbar. Er muss gehen – so oder so.“ Klare Ansage, oder? Was Ferdinand Dudenhöffer fordert, ist auch der Tenor in der Öffentlichkeit zur Abgas-Affäre bei VW. Und auch der Aufsichtsrat kündigt schon personelle Konsequenzen an.
Irgendwie verständlich. Schließlich drohen dem Konzern durch den Betrug bei der Abgasuntersuchung Schadenersatzforderungen von zig Milliarden Euro. Die Aktie stürzt ins Bodenlose. Und was der massive Imageschaden für VW nach sich ziehen wird, können weder Sie noch ich vorhersagen.
Ja, bei solchen Zahlen ist es leicht, den Abgang Winterkorns zu fordern. Ich finde das voreilig.
Hat Winterkorn seinen Laden nicht im Griff?
Die Argumentation, Winterkorn hätte entweder von dem Betrug gewusst oder hätte seinen Laden nicht im Griff, halte ich nämlich für absoluten Nonsens – vor allem den zweiten Teil.
Sollte Winterkorn von der Software, die bei der Abgasuntersuchung die Emissionen automatisch reduziert, gewusst haben, sie gebilligt oder sogar selbst darüber entschieden haben, ist das klarer Betrug. Dass dafür an der Konzernspitze kein Platz ist, ist wohl jedem klar.
Aber der Vorwurf, Winterkorn hätte keine Kontrolle über seinen Konzern, entstammt einer paternalistischen Denkweise des vorletzten Jahrhunderts. Eine Organisation wie VW ist nicht nur umgangssprachlich, sondern auch im wissenschaftlichen Sinne komplex. Und ein komplexes System kann niemand „im Griff haben“. Kontrolle ist eine Illusion. Und darum ist es Unsinn, sie zu fordern oder auch nur davon auszugehen, dass sie überhaupt möglich ist. Winterkorn hat seinen Laden nicht im Griff? Natürlich nicht. So wie keine einzige Führungskraft dieser Welt.
Betrug ist sozial legitimiert
Bevor Sie nun aber denken, ich möchte Winterkorn aus der Verantwortung nehmen: Keinesfalls! Nur mache ich ihm einen ganz anderen Vorwurf: dass er Praktiken bei VW eingeführt, weitergeführt oder geduldet hat, die solches Fehlverhalten folgerichtig nach sich ziehen.
VW ist geprägt von einem Führungssystem aus Planung, Budgets, abgeleiteten Zielen, periodischen Reports und nicht zuletzt individuellen Zielvereinbarungen, die sich auf Faktoren wie Absatz, Qualität, Kostensenkung, Abgasreduzierung beziehen. You name it. Damit ist VW sicher in guter Gesellschaft. Dumm nur, dass diese Praktiken nicht selten zu Betrug führen.
Warum?
Wenn es für ein Abgassystem beispielsweise keine Lösungsidee gibt, die der Zielsetzung gerecht wird, dann muss derjenige, der daran forscht und entwickelt, eine Entscheidung treffen: Gibt er zu, dass ihm im Moment noch keine Lösung zur Verfügung steht oder das Budget zur Entwicklung viel zu gering ist, gefährdet er damit auf kurz oder lang seinen Job. Festgesteckte Ziele nicht erreichen? Das kann er sich in einer solchen Kultur nicht lange erlauben. Oder aber er findet einen anderen Weg, seine Zielsetzung zu erfüllen – und die kann sich dann an der Grenze zwischen legal und illegal bewegen.
Das Mantra des ständigen Siegens
Wer auch immer die Entscheidung bei VW getroffen hat, hätte natürlich auch anders entscheiden können. Er hätte sagen können: „Das Produkt wird es in den USA nicht durch die Abgasprüfung schaffen. Die Emissionen lassen sich bei gewünschter Motorleistung nicht so weit senken. Wir brauchen noch mindestens fünf Jahre zur Weiterentwicklung.“ Gleichzeitig unterliegt er aber einem hohen kulturellen Druck: die nächste Karrierestufe erreichen, nicht gefeuert werden etc. Das ist umso fester in seinen Gedanken verankert, je länger er von der Kultur im Unternehmen geprägt wird. Kurz: Zu glauben, dass die Leute nur rein nach ihrem Wissen und Gewissen handeln, greift viel zu kurz.
Ob es genau so bei VW passiert ist, vermag ich natürlich nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber durch den Druck der individuellen Zielvereinbarung und das Mantra des ständigen Siegens werden Mitarbeiter in solche Entscheidungen getrieben. Manchmal sind sie noch auf der Seite des Legalen, manchmal überschreiten sie sie. Und dann können sie nur hoffen, dass sie nicht erwischt werden. Diesmal ist es eben schief gegangen. In vielen anderen Fällen kamen sie vermutlich damit durch.
Was ich damit sagen will: Alle Beteiligten arbeiten in einer vorgegebenen Struktur, die sie zu einer solchen Entscheidung treibt, und in einer Kultur, die eine solche Entscheidung fördert oder zumindest legitimiert. Zu glauben, dass die Leute kontextfrei, nur aus sich heraus handeln, ist mehr als infantil.
Compliance ist nicht die Lösung
Was also tun, lieber Herr Dudenhöffer, lieber Herr Winterkorn, liebe Damen und Herren? „Wir brauchen eine neue Führungskultur?“ Ich befürchte ja ein ähnliches Desaster wie bei Siemens nach dem Bestechungsskandal oder bei der Deutschen Bank nach dem Zinsskandal. Da haben die Unternehmen massiv ihre Compliance-Abteilungen aufgerüstet, um sämtliche Vorgänge noch strenger zu überprüfen. Dabei ist das lediglich der Versuch, Symptome der alten Struktur mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen. Die tatsächlichen Probleme wurden dadurch nur verschärft, weil die Mitarbeiter nun noch heimlicher an neuen Lösungen für nicht erreichbare Ziele arbeiten müssen. Das ist in etwa so, als wenn Sie Öl über ein Feuer gießen in der Hoffnung, es damit zu löschen.
Es geht vielmehr darum, was Herr Winterkorn – oder sein Nachfolger – nun dafür tun kann, dass ein solches Verhalten nicht mehr sozial legitimiert ist, sondern geächtet wird. Natürlich kann weder Winterkorn noch irgendein „besserer“ Chef die Kultur bei VW gezielt steuern. Nicht durch Kulturprogramme, nicht durch platte Parolen auf Plakaten in den Büros oder Kaffeeküchen. Nein, die Kultur kann er nur ändern, indem er die formale Struktur verändert, verstaubte Managementpraktiken abschafft und neuer Rituale initiiert.
Und jetzt?
Nun kann ich natürlich nicht ermessen, ob sich Winterkorn selbst eines Betrugs schuldig gemacht hat. Das werden juristische Untersuchungen aufzeigen. Aber er verantwortet auf jeden Fall den Kontext, der eine solche Verfehlung überhaupt möglich gemacht hat – die Struktur seines Unternehmens, die immer noch von der grundsätzlichen Beherrschbarkeit einer Organisation ausgeht. Er hatte schon Jahre Zeit, die altertümliche Formalstruktur seines Unternehmens aufzubrechen und dadurch den Kontext und in der Folge die Kultur im Unternehmen zu verändern. Aber das ist bisher – jedenfalls soweit es für die Öffentlichkeit sichtbar ist – nicht geschehen.
Es bleibt also die Frage: Wird Winterkorn jetzt Maßnahmen ergreifen, die an der Struktur des Unternehmens ansetzen? Oder setzt er dem neuen Problem alte Lösungen entgegen? Sie dürfen gespannt sein.