Anzeige

Meinung Rede zur Lage der Union: Europas inszenierte Stärke

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, während ihrer Rede zur Lage der Union im Europäischen Parlament in Straßburg
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, während ihrer Rede zur Lage der Union im Europäischen Parlament in Straßburg
© Pascal Bastien / Picture Alliance
In ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union suggeriert Ursula von der Leyen Stärke und Kontrolle. Doch hinter der makellosen Fassade offenbart sich Europas Ohnmacht

Es ist ein Auftritt, den sie beherrscht. Ursula von der Leyen steht vor dem Rednerpult, olivgrüner Blazer, das Haar sitzt, die Rede auch. Es gibt keine Wackler, keine Versprecher, nicht einmal, wenn sie vom Englischen ins Französische, dann ins Deutsche wechselt. Alles wirkt einstudiert, jede Geste, jedes Stirnrunzeln, ja sogar die ironischen Kommentare, die sie ihren Kritikern zuwirft. 

Ursula von der Leyen hat heute die Kontrolle. Nur dann wirkt sie stark. An dem Tag, an dem russische Drohnen über Polen abgeschossen wurden, sagt von der Leyen: „Europe is in a fight“, Europa befindet sich in einem Kampf. 

Ein Kampf um den Frieden. Um Demokratie. Um Macht, Werte, seine Unabhängigkeit. 

Die Kommissionspräsidentin benennt Probleme, schlägt Lösungen vor.

Sie lädt einen Jungen ins Parlament, der Opfer der russischen Besetzung der Ukraine wurde, auch seine Großmutter. Erzählt seine Geschichte. Fordert von den Abgeordneten eine Standing Ovation ein.

Auch einen Feuerwehrmann hat sie mitgebracht. Einen griechischen Ranger, er kämpfte gegen die dortigen Waldbrände. Sogar aus dem All konnte man die Flammen sehen. Leute wie er machten Europa aus, sagt sie. Das Wort „Klimawandel“ findet in der gesamten Rede keinen Eingang.

Sie nennt Namen wie „Qualitative Military Act“, „Eastern Flank Watch“, „Battery Booster Package“, „New Grids Package“. Sie kündigt Gipfel an, zur Ukraine, zu Gaza. Vieles davon sind Luftschlösser.

Ein Anschein von Stärke

All das soll vermitteln: Ursula von der Leyen hat alles im Griff. Europa mag es schlecht gehen, Wirtschaftskrise, Handelskriege, Bedeutungsverlust, doch die Chefin der Kommission wird es richten.

Tatsächlich ist die Rede zur Lage der Union vor allem eins: eine Inszenierung vorgetäuschter Größe, vielleicht sogar Selbstbetrug.

Die EU versucht zu richten, was sie über Jahrzehnte versäumt hat. Nicht zerdrückt werden von Großmächten wie den USA, China, Russland. Unabhängig zu werden von fossilen Energien aus autoritären Staaten oder von den technologischen Fortschritten aus Silicon Valley. Die europäische Industrie wieder auf Stand bringen und die eigenen Mitglieder auf Spur. Ursula von der Leyen mag für all das nicht verantwortlich sein, doch ob gerade sie Europa aus der Krise führen wird? 

Tatsache ist: Ursula von der Leyen spricht aus einer Position der Schwäche. Sie verbringt ihre zweite Amtszeit damit, die Dinge rückgängig zu machen, die sie in ihrer ersten Amtszeit angeführt hat. Ihre Kritiker sitzen inzwischen nicht nur an den linken und rechten Rändern, sondern kommen auch aus der Mitte, ja sogar aus ihrer eigenen Partei. Ihre Gesetzesvorschläge scheitern in Parlament und Rat, manche musste sie gar zurückziehen. Ihr Handelsdeal mit Donald Trump treibt europäische Unternehmen in die Krise. In Transparenzfragen folgt Rückschritt auf Rückschritt.

Ursula von der Leyen macht Zugeständnisse an die Linke

Mit ihrer heutigen Rede wollte Ursula von der Leyen vor allem die Linke wieder auf ihre Seite ziehen, nachdem sie sie ein Jahr lang vergrämt hat. Das lang erwartete Verbrenner-Aus blieb aus. Dafür aber Ankündigungen für ein sozialeres Europa. Und vor allem klare Worte zu Gaza, nach so langer Zeit, dabei hatte sie gerade noch eine ihrer Kommissarinnen genau dafür abgestraft. Auch wenn sie es schafft, fünf Minuten über Gaza zu sprechen und nur einmal „Israel“ zu erwähnen, auch wenn das Wort „Genozid“ bei ihr nicht vorkommt.

Ursula von der Leyen will das Assoziierungsabkommen mit Israel vorerst aussetzen. Sie kündigt sogar Sanktionen an, gegen „extremistische Minister“ und „gewalttätige Siedler“. Ob sie auch Netanjahu als extremistisch einschätzt, lässt sie offen.

>> Die Woche – Newsletter <<

Das wichtigste Thema der Woche aus Wirtschaft, Finanzen und Politik – pointiert eingeordnet von Capital-Chefredakteur Timo Pache. Immer freitags, kostenlos und mit vielen Lese-Tipps zu den besten Capital-Geschichten der Woche.

Hier können Sie den Newsletter abonnieren

Als Ursula von der Leyen mit ihrer Rede abschließt, folgt langer Applaus. Heute, so scheint es, hat sie die meisten Abgeordneten hinter sich. Heute aber ging es vor allem um Rhetorik. Ursula von der Leyen mag die Bühne perfekt beherrschen, doch die Kontrolle über Europas Schicksal entgleitet ihr.

Dieser Artikel ist eine Übernahme des Stern, der wie Capital zu RTL Deutschland gehört. Auf Capital.de wird er zehn Tage hier aufrufbar sein. Danach finden Sie ihn auf www.stern.de.

Mehr zum Thema

Neueste Artikel

VG-Wort Pixel