Deutschland, eine Digitalnation? Danach gefragt, würde ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger wohl amüsiert abwinken. Den Personalausweis online beantragen oder das Auto mit wenigen Mausklicks zulassen: Das kennt man vielleicht aus anderen Ländern.
Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt hinkt bei digital verfügbaren Verwaltungsleistungen hinterher, rangiert im EU-Vergleich auf Platz 18 (von insgesamt 28). Trotz der misslichen Ausgangslage will die Bundesregierung nun den Rotstift ansetzen: Statt 377 Millionen Euro (wie 2023) sollen im kommenden Jahr nur noch drei Millionen an Investitionen fließen (s. Infokasten).
Kann sich die Möchtegern-Digitalnation Deutschland die Kürzungspläne leisten? Die Aufregung ist jedenfalls groß, auch innerhalb der Ampel-Koalition. „Mehr Geld wird uns nicht weiterhelfen“, sagt Lars Zimmermann im Interview. Der Mitgründer und Vorstandsmitglied von GovTech Campus Deutschland, einer Denkfabrik für Digitalisierung, sieht ein grundlegenderes Problem.
Herr Zimmermann, ausgerechnet bei der Digitalisierung der Verwaltung streicht die Ampel den geplanten Etat für 2024 radikal zusammen. Digitalwirtschaft und Forschung sind empört. Sie auch?
LARS ZIMMERMANN: Nein. Mehr Geld und mehr Personal führen nicht automatisch zu einer erfolgreichen Digitalisierung der Verwaltung. Diese Erwartungshaltung haben die letzten Legislaturperioden widerlegt. Es braucht zwar Investitionen, aber viel entscheidender ist die Organisation der Digitalisierung – und weniger die Frage, ob nun eine Milliarde Euro mehr oder weniger in die Hand genommen werden. Mehr Geld allein wird uns nicht helfen.
Deutschland hinkt im internationalen Vergleich seit Jahren hinterher, hat enorm viel aufzuholen – und das soll mit weniger Geld besser gelingen?
Entscheidend ist, dass an den richtigen Stellen investiert wird. Es wird wahnsinnig viel Geld in teure Großprojekte und Doppel- und Dreifachstrukturen versenkt, weil derzeit viele verschiedene Akteure auf vielen verschiedenen Ebenen aneinander vorbei arbeiten. Wenn etwa mehrere Kommunen gleichzeitig eine Parkraumbewirtschaftungs-App entwickeln, muss man sich fragen: Ist das effizient eingesetztes Geld?
Was schlagen Sie vor?
Im Grunde genommen müssen wir den Staat zu einer Plattform umbauen, auf die alle zugreifen können, Lösungen auf Basis geteilter Standards entwickelt und selbst der Austausch von Personal und Wissen ermöglicht wird. So könnten Produkte und Lösungen gemeinsam entwickelt werden, viel schneller und viel größer skalierbar. Andere Länder sind damit sehr erfolgreich. In Deutschland weiß die eine Hand oftmals nicht, was die andere tut.
Diese deutschen Städte sind führend bei der Digitalisierung
Der Digitalverband Bitkom hat zum vierten Mal die Digitalisierung deutscher Städte geprüft. Der aktuelle Smart City Index fand von April bis Juli 2022 statt. Die Experten analysierten 133 Parameter in fünf Kategorien: Verwaltung, Mobilität, Gesellschaft, IT & Kommunikation, Energie & Umwelt. Dabei zeigte sich: Die Digitalisierung ist in vielen Kommunen in voller Fahrt. Eine gute Platzierung im Vorjahr garantiere deshalb auch kein gutes Ergebnis im Folgejahr, warnte Bitkom. Das zeigte sich auch an Darmstadt. Es war auf Platz zehn der Verlierer der Top 10. 75,3 von 100,0 möglichen Punkten bedeuteten im Vergleich zum vorherigen Ranking einen Absturz um fünf Plätze.
In den Top 10 gab es aber auch gleich drei Newcomer, die sich jeweils um zehn Plätze verbesserten. Zu ihnen gehörte Düsseldorf auf Platz neun mit 76,6 Punkten. In den Einzelkategorien gab es gleich zweimal einen dritten Platz für Düsseldorf, nämlich bei Verwaltung und Gesellschaft. Bitkom hat für den Smart City Index alle 81 Städte ab 100.000 Einwohner untersucht. Die Städte konnten den Stand der Digitalisierung in den verschiedenen Bereichen selbst angeben. Die Informationen wurden laut Bitkom von Experten geprüft. „Für alle übrigen Städte wurden fehlende Daten echerchiert, die Städte hatten anschließend ihrerseits Gelegenheit zur Überprüfung“, hieß es.
Aachen hatte im Smart City Index 2021 noch auf Platz 17 gelegen. Ein Jahr später reichte es dank der vorangetriebenen Digitalisierung bereits für den siebten Rang. Die Experten sprachen Aachen 77,3 Punkte zu. Die beste Einzelwertung gelang in der Kategorie „Energie & Umwelt“. Hier belegte Aachen mit 79,7 Punkten den bundesweit vierten Platz. Bei der Mobilität reichte es hingegen „nur“ für Rang neun.
Nürnberg ist der dritte und letzte Newcomer in der Spitzengruppe der am stärksten digitalisierten Städte Deutschlands. Ihm gelang mit 77,6 Punkten der Sprung vom 16. auf den sechsten Platz. Dafür sorgten zwei erste Plätze in den Bereichen „Verwaltung“ sowie „Mobilität“.
Sechs der laut Bitkom zehn am besten digitalisierten Städte Deutschlands haben sich in dem Ranking verbessert. Stuttgart kletterte vom achten auf den fünften Rang und kam auf 78,1 Punkte. Die beste Einzelplatzierung gelang mit einem fünften Platz für Energie und Umwelt.
Köln war der letzte Absteiger in der Spitzengruppe des Smart City Index. Die Rhein-Metropole hatte im Vorjahr noch den zweiten Rang belegt. 79,4 Punkte reichten dieses Mal aber nur noch für Platz vier. Dafür sorgte auch ein fünfter Rang bei der Mobilität. Köln wurde damit von den folgenden zwei Metropolen überrundet.
Dresden schob sich im Digitalisierungs-Ranking vom sechsten auf den dritten Platz vor. Mit 81,6 Punkten klappte erstmals der Sprung aufs Treppchen. Dresden glänzte insbesondere in der Unterkategorie „Gesellschaft“. Die hier erzielten 95,0 Punkte waren der deutschlandweit zweitbeste Wert in dieser Sparte.
München zündet laut Bitkom bei der Digitalisierung den Turbo. Die bayrische Landeshauptstadt erzielte 85,3 von 100,0 möglichen Punkten. Das bedeutete den Aufstieg vom vierten auf den zweiten Platz. Damit kam der Aufsteiger dem Spitzenreiter bereits gefährlich nah. München glänzte insbesondere mit einem zweiten Platz im Bereich „IT und Kommunikation“. Lediglich Rang sieben wurde es laut den Experten in der Sparte „Gesellschaft“.
Hamburg wurde im Smart City Index erneut zur am stärksten digitalisierten Stadt Deutschlands gekürt. Ein Grund: Die Stadt hat am Hauptbahnhof eine ehemalige Bankfiliale in ein Pop-up-Bürgeramt verwandelt. Dort bekommen Hamburger aus allen Stadtteilen meist schnell einen Termin, teils sogar noch am selben Tag. Allerdings büßte die Elbmetropole laut dem Bericht mit 86,1 Punkten stark an Vorsprung ein. Im Bereich Gesellschaft aber gelang Hamburg mit 98,1 Punkten fast ein perfektes Ergebnis.
Wie ist es um Deutschland als Digitalnation bestellt? Wo sehen Sie die größten Defizite?
Ein technologiefähiger, digitaler Staat ist eine Grundvoraussetzung für Wachstum und die Zukunftsfähigkeit einer Volkswirtschaft – das wurde in Deutschland noch nicht verinnerlicht. Die Entwicklung von ein paar Apps, mit denen man sich den ein oder anderen Behördengang sparen kann, lösen nicht das grundlegende Problem: Der Staat muss nicht nur digitalisiert werden, sondern auch modernisiert. Sie können auch mit der besten digitalen Lösung nichts anfangen, wenn sie auf dem Betriebssystem der Bonner Republik läuft.
Digitalisierung in Deutschland: „Das ist keine Raketenwissenschaft“
Was denken Sie: Wann kann man in Deutschland einen Personalausweis online beantragen oder ein Auto zulassen?
Das geht immerhin schon teilweise. Aber viel entscheidender ist doch die Frage: Bekommen wir eine Staatsstruktur hin, die so modern ist, dass sie die zentralen Herausforderungen der Zukunft lösen kann? Ein Beispiel: Der Staat wollte Studierenden rasch eine Energiepreispauschale von 200 Euro ausschütten…
…was sich dann über ein halbes Jahr hinzog…
…weil der Staat überhaupt nicht dazu in der Lage war. Ihm fehlten die dafür notwendigen Strukturen. Wer hat Anspruch auf das Geld? Wie gelangt es zu den Studierenden ohne große Antragsprozesse? Das ist keine Raketenwissenschaft. Deutschland fehlt die grundlegende Infrastruktur, um Politik im digitalen Zeitalter schnell umzusetzen – antragslos, zielgenau und wirksam. Ein digitaler Staat stärkt daher auch das Vertrauen in die Demokratie.
Die Digitalnation Deutschland hat also ein viel grundlegenderes Problem – neben der schleppenden Verwaltungsdigitalisierung. Klingt ziemlich teuer, oder?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es braucht große Investitionen, weil ohne Investitionen können Sie die Verwaltung nicht digitalisieren. Aber das ganze Geld ist nichts wert, wenn das Fundament fehlt. Unsere Demokratie muss technologiefähig werden. Deswegen muss in Technologie und Veränderungsfähigkeit der Verwaltung – idealerweise in Form einer Staats und Verwaltungsreform investiert werden. Dann klappt es auch mit der Verlängerung des Personalausweises mit wenigen Mausklicks.
Das Interview ist zuerst bei stern.de erschienen