Die Schlangen vor der Alten Nationalgalerie in Berlin sind ähnlich lang wie vor dem berühmten Club Berghain, die Erwartungen einer besonderen Erfahrung womöglich genauso groß. Menschen aller Altersstufen sind bereit, lange zu warten, um die Welt durch die Augen des Malers Caspar David Friedrich zu sehen und die aktuelle Ausstellung zu seinem 250. Geburtstag „Caspar David Friedrich – Unendliche Landschaften“ zu besuchen. Woher kommen diese Faszination und die neue Rezeption? Warum schafft der bedeutendste Vertreter der deutschen Romantik, der lange vergessen schien und eher wenig beachtet wurde, dieses erstaunliche Comeback – und das nicht nur in der Kunstwelt, sondern bei einem breiten Mainstream-Publikum?
Ist es das Verhältnis zwischen Natur und Mensch, das wir neu betrachten angesichts der vielen Klimakatastrophen? Fühlen wir eine neue Endlichkeit durch die aktuellen Kriege und politischen Verschiebungen? Ist es der melancholische Blick auf eine Welt, in der sich manche Menschen unverstanden und einsam fühlen?
Friedrich, der oft als eigenwilliger, verschrobener Sonderling beschrieben wird, trifft mit seinen düsteren Landschaften und mystischen Meeres- und Himmelsstudien offensichtlich einen Nerv. Der Blick auf das Œuvre eines Künstlers und die jeweilige Interpretation sagen stets auch viel aus über den zeitlichen Kontext und die Welt, in der die Betrachterinnen leben. Das macht die Kunstgeschichte so spannend, in jeder Zeit kann ein künstlerisches Werk neu eingeordnet und anders interpretiert werden als 50, 100 oder 200 Jahre zuvor.
In jedem Fall geht die Bedeutung der Arbeiten Friedrichs über das Dargestellte weit hinaus. Im Anblick der Natur werden Fragen zur Vergänglichkeit des menschlichen Lebens gestellt. Seine Rückenfiguren schauen stellvertretend für uns alle hinein in die Unfassbarkeit der Welt, sie betrachten die Schönheit der Natur und fragen nach unserer Rolle als Mensch im Verhältnis zur Welt. In seinen Arbeiten – und eben auch vor seinen Arbeiten stehend – stellen sich vielen die großen Fragen: Wovor hast du Angst? Wonach hast du Sehnsucht? Was gibt unserem Leben Sinn?
Gemalt, um zu bleiben
Der aus Greifswald stammende Caspar David Friedrich (1774-1840) wurde schon einmal wiederentdeckt, am Anfang des 20 Jahrhunderts. Friedrich, der zu Lebzeiten durchaus umstritten war, revolutionierte die Malerei seiner Zeit und wurde zu einem wichtigen Vorläufer der Moderne. Er gilt heute als wichtigster Maler der deutschen Romantik, doch nach seinem Tod wurde er zunächst für ein halbes Jahrhundert vergessen. Bis dann, im Jahr 1906 die legendäre „Deutsche Jahrhundertausstellung“ in der Nationalgalerie den Anstoß gab, Friedrich neu zu betrachten.
Die aktuelle Ausstellung in Berlin zeigt nun weltberühmte Ikonen wie „Mönch am Meer“, „Das Eismeer“ und „Kreidefelsen auf Rügen“. Sie ist Teil des Caspar David Friedrich-Festivals, zu dem auch Ausstellungen in der Hamburger Kunsthalle, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und ab 2025 auch dem Metropolitan Museum of Art in New York gehören, wo die Ausstellung den treffenden Namen „The Soul of Nature“ tragen wird; und welche im Übrigen die erste umfassende Ausstellung in den USA sein wird, die dem bedeutendsten Vertreter der deutschen Romantik gewidmet ist.
Versunken in die Arbeit
Während viele andere große Künstler sich nach Süden orientiert haben, nach Italien gingen oder nach Südfrankreich, fand Friedrich die Faszination in den eher düsteren Landschaften des Nordens. Er liebte die Ostsee, die Insel Rügen und die Natur insgesamt. Er durchwanderte die Insel Rügen, fertigte zahlreiche Zeichnungen von der Küste an, von den See- und Flussufern und den berühmten Kreidefelsen. Das Meer und der Himmel, Gebirge und Küsten wurden zu seinen zentralen Motiven. Immer wieder ging er hinaus in die Natur, studierte Farben, Formen und Lichtstimmungen, um diese später im Atelier malerisch zu erfassen und in seine unendlichen Landschaften zu verwandeln. Während er diese Bilder der Sehnsucht erschuf, wollte der Meister nicht gestört werden und ließ Besucher abweisen, denn „Himmelmalen ist Gottesdienst“, waren seine Worte, so heißt es.
Friedrich wurde als sechstes von zehn Kindern des Seifensieders Adolf Gottlieb Friedrich und dessen Frau Sophie Dorothea Friedrich geboren. Ende des 18. Jahrhunderts studierte er an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen. Anschließend ging er nach Dresden, die Stadt, die viele Jahre zu seinem Lebensmittelpunkt wurde und wo viele seiner wichtigsten Werke entstanden. Er malte die Farben des Sonnenuntergangs, das melancholische Licht des Mondes und einsame knochige Bäume. Doch bei aller düsteren Stimmung, scheint immer auch ein Fünkchen Hoffnung auf. Wenn man das „Eismeer“ ansieht, erscheint es zunächst bedrohlich und man mag an Untergang und Zerstörung denken, aber wer länger hinsieht, entdeckt dieses kleine Fleckchen am oberen Bildrand, wo der Himmel aufreißt, und ein Hoffnungsschimmer aufscheint. Es lässt sich eine Demut gegenüber der erhabenen Natur erkennen, eine Suche nach Glück und einem besseren Leben vielleicht und nie eine endgültige Hoffnungslosigkeit.
Vielmehr sind es Bilder der Melancholie, die dennoch Hoffnung geben. Sein Zeitgenosse Goethe konnte angeblich nichts mit ihm anfangen, zu düster und depressiv waren ihm diese Bilder, man solle sie auf der Tischkante zerschlagen. Andere behaupten, Goethe hätte Friedrichs Arbeiten sehr verehrt, sei nur politisch nicht mit seinen Vorstellungen einverstanden gewesen.
Friedrich als Antithese zur Dauerbetäubung unserer Zeit
Der Hype um Caspar David Friedrich zeigt den Wunsch danach, wieder etwas zu fühlen. Es ist die Antithese zur Dauerbetäubung unserer Zeit. Die Suche nach Emotionen und Wahrhaftigkeit. Der Umgang mit einer neuen Einsamkeit, die wir nicht greifen, aber doch spüren können. Der Wunsch, sich selbst als Teil der Welt zu empfinden und der Natur mit mehr Respekt zu begegnen. Und beim Anblick der Schönheit der Welt in sich selbst hineinzusehen: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht.“ Sich auf das Fühlen einzulassen, in sich selbst hineinzusehen, darin liegt der Mehrwert für uns heute.
Während die künstliche Intelligenz unsere Welt erobert und es manchem so vorkommen mag, dass wir technologisch, politisch und klimatechnisch die Kontrolle zu verlieren scheinen, ist die Sehnsucht größer denn je, das magische Licht des Mondes anzusehen oder einen Blick in den Himmel und dessen Wolkenformationen zu werfen. Raus gehen und sich die Zeit nehmen, im Angesicht der Natur in unser Inneres hineinzuhorchen, das ist es wert. Wir sind kleine, unbedeutende Gestalten gegenüber der mächtigen Natur, der wir eigentlich doch recht egal sind.
Nach der Beschäftigung mit Friedrichs Bildern will man wieder in den Nebel und die Wolken blicken und mit seinen Augen die Magie darin entdecken. Die Natur ist der beste Spiegel für uns, wenn wir bewusst hineinsehen. Ein guter Grund, unsere Bildschirmzeit zu verringern und am besten jetzt aufzuhören im Netz zu lesen und sich auf direktem Wege in die Natur zu begeben. Wir werden vielleicht mehr sehen und entdecken als wir denken. Schließlich schauen wir doch in den gleichen Himmel wie Friedrich vor über 200 Jahren.