Wir sind gefangen in einem seltsam dystopischen, David Lynch-artigen Film, ohne zu wissen, wann und wie er endet. Und dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass uns diese Wochen des Innehaltens guttun. Neben all dem Leid, was das Sars-CoV-2 Virus auf der Welt verursacht, wirft es auch dringende Fragen auf, die lange vernachlässigt wurden, weil wir vermeintlich Wichtigeres zu tun hatten. Plötzlich, wie aus dem Nichts, der Shutdown, das gesamte Leben heruntergefahren auf null, ein Reboot für alle: Gehen Sie zurück auf Los, ziehen Sie nicht… genau. Aber es ist eben keine Ereigniskarte bei Monopoly, sondern ein Virus, das der Weltwirtschaft bereits einen harten Schlag versetzt, Existenzen bedroht und uns alle zu einer Denkpause gezwungen hat.
Und was jetzt? Rückzug, Umdenken, Neustart? Wie umgehen mit dem Unbekannten? Mit der Erosion all dessen, was bisher als sicher galt? Merken wir erst in der Krise, was uns wirklich wichtig ist? Die Prognosen für die Zukunft sowie die Re-Gnose, also der Versuch aus der Zukunft auf das Heute zurückzublicken, wie sie Zukunftsforscher Matthias Horx unternommen hat , fallen sehr unterschiedlich aus. Eigentlich wissen wir nur, dass wir eben nicht wissen, wie das alles endet. Die ganze Welt ist in Quarantäne und lebt nun mit der Ungewissheit. Es ist die krasseste Black-Mirror-Folge, die es je gab. Und das Heute-Journal mit Claus Kleber ist plötzlich spannender als jede Netflix-Serie.
Die Krise als Weckruf
Unser erster Impuls war: möglichst schnell zurück zur Normalität! Wir wollen zurück ins Café, ins Kino, ins Fitness-Studio, aufs Konzert, zurück ins Lieblingsrestaurant. Alles soll wieder so werden, wie es war. Doch nun kommen wir langsam zu der Erkenntnis, dass einfach nur ein Wiederherstellen des Status quo nicht das Ziel sein kann und eine vertane Chance wäre. Vielleicht können wir ein kleines bisschen schlauer aus der Krise herauskommen als wir hineingegangen sind. Und ein wenig dankbarer und respektvoller. Der Umwelt gegenüber, aber auch unseren Mitmenschen gegenüber.
Wenn der Kampf um das letzte Klopapier im Drogeriemarkt vorbei ist, die Schlacht um Mehl, Konserven und Tiefkühlware geschlagen ist, was kommt dann? Bald verlassen wir vermutlich die Phase aus Isolation, Social Distancing und Hamsterkäufen. Dann sind alle erdenklichen Pasta-Varianten durchgekocht, zahllose Video-Konferenzen überstanden, virtuelle Geburtstage gefeiert und Feierabend-Bierchen getrunken über Zoom, Teams, WebEx, Skype, Whereby (wie viele Tools für Video-Calls gibt es eigentlich?), das 10.000 Teile Puzzle ist gelöst, das letzte Home-Workout beendet. Es war nicht leicht, aber es war nötig. Nach einigen Wochen Home-Schooling sind viele nun doch froh, dass es Schulen und Lehrer gibt. Wir haben uns gegenseitig übertroffen mit unseren Kochkünsten, Home-Workouts, Home-Yoga, Home-whatever. Ein Mann in der Nähe von Toulouse ist sogar einen ganzen Marathon auf seinem Balkon gelaufen. Andere haben ihre Wohnung so gründlich geputzt wie noch nie oder ihre Bücher nach Farben sortiert.
Keine Frage: Auf dem Weg zwischen Balkon, Bett, Küche und Klo haben sich viele selbst gefunden. Irgendwie. Und wir sind staunende Zeugen merkwürdiger Trends geworden: Virologen wurden zu Influencern, Klopapier-Memes haben das Internet erobert, Spazierengehen wurde zum Mega-Trend – oder anders gesagt, wir haben es für uns entdeckt „das neue Medium langer Spaziergang“, wie es in den „Notes from Quarantine“ bei Texte zur Kunst heißt. Während in anderen Ländern Wein, Kondome und Cannabis gehamstert wurden, waren es bei uns Klopapier, Nudeln und Desinfektionsmittel. So sind wir eben, wir Almans.
Und bei alldem haben wir einiges gelernt, zum Beispiel was „solidarisches Einkaufen mit Maß und Mitte“ ist, was „Herdenimmunität“ bedeutet und was „systemrelevante Berufe“ sind. Wir haben erfahren, dass „Hamsterkäufer die Kontrolle über ihr Leben behalten wollen“, so der Psychologe und Hirnforscher Hans Georg Häusel. Wir wurden daran erinnert, wie extrem wichtig sozialer Zusammenhalt ist und auch daran, dass wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben und eine Bundeskanzlerin, um die uns viele Länder der Welt beneiden.
Und wir haben auch noch ein paar andere Dinge verstanden: Gesundheit ist am Ende wohl doch wichtiger als Ökonomie, der freie Markt regelt eben nicht alles von allein, Helfen macht glücklicher als Geld verdienen und Ruhephasen sind manchmal produktiver als Vollgas im Hamsterrad. Und scheinbar bedarf es einer Pandemie, damit wir endlich unsere Klimaziele erreichen oder ihnen zumindest ein Stück näherkommen, absurd.
Zeit, einen Wandel einzuläuten?
In der erzwungenen Distanz sind wir alle näher zusammengerückt. Wir sind unseren Mitmenschen zwar wie Slalomstangen ausgewichen, aber haben sie immerhin bewusst wahrgenommen. Viele haben wieder mehr Telefonate mit der Familie geführt (manche haben sogar das Festnetz wiederentdeckt), mehr Kontakt zu alten Freunden gehabt und eine neue Wertschätzung entwickelt gegenüber allem, was wir zeitweise verloren haben.
Und irgendwie scheint ganz nebenbei noch ein kleines Wunder zu passieren: Ein Virus aus einer Fledermaus-Suppe in Wuhan (ernsthaft?), treibt die digitale Transformation in Deutschland voran. Vielleicht ist es nüchtern betrachtet auch ein Irrtum, aber es klingt erstmal nicht schlecht: die Pandemie als Katalysator und Innovationstreiber. Nun ja, immerhin hat das kollektive Homeoffice die Feuerprobe bestanden. Und Deutschland scheint das Internet noch einmal neu für sich zu entdecken. Wahrscheinlich wurde noch nie so viel Kultur virtuell konsumiert, Live-Streams von Ausstellungen, Lesungen und Konzerten ohne Publikum wurden millionenfach angesehen. Digitale Hilfsplattformen versuchen die Gastro- und Kulturszene zu retten. Netzwerke wie nebenan.de und viele andere haben mehr Teilnehmer und mehr Rückhalt als je zuvor.
Eine Welle der Hilfsbereitschaft und des Umdenkens scheint durch unser Land zu schwappen und man fragt sich: Wollen wir noch dorthin zurück, wo wir herkommen? Was war gut, was war schlecht? Selbst wenn wir jetzt nicht die ganz große Systemfrage stellen, setzen wir doch hinter viele Dinge ein Fragezeichen: Brauchen wir wirklich diese unfassbare Zahl an Flügen? Wollen wir den weltweiten Warenverkehr in seiner extremsten Form? Und den kopflosen Konsum von Produkten, die wir eigentlich nicht brauchen? Wann endet der rücksichtslose Umgang mit unserem Planeten? Wollen wir Krankenhäuser, die in Wahrheit Profit-Center sind? Wann beenden wir die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche? Wollen wir eine turbokapitalistische (und ungerechte) Globalisierung, die sehenden Auges auf einen Eisberg zurast? Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen vielleicht doch keine so schlechte Idee?
Ziemlich viel Zeugs, was wir da gerade hinterfragen. Zum Glück. Und wenn wir nicht ganz doof sind, fangen wir nun auch endlich an, Menschen angemessener und gerechter zu bezahlen, zum Beispiel in der Alten- oder Krankenpflege. Die Krise scheint unseren Blick zu schärfen. Es werden wichtige Dinge in unserer Gesellschaft wieder mehr wertgeschätzt, wie das soziale Miteinander, es werden aber auch schädliche Dinge klarer als solche entlarvt: Populismus, Fake News, die gesellschaftliche Spaltung. Rechte Parteien, die aus der Flüchtlingskrise Kapital schlagen wollen, Gruppierungen, die soziale Destabilisierung anstreben: All das wirkt vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Krise noch abstoßender als es eh schon war. Sogar das temporäre Hochziehen der innereuropäischen Grenzen scheint trotz allem sein Gutes zu haben, indem es uns den unschätzbaren Wert eines vereinten, freien Europas vor Augen führt.
Konzentration nach Innen
In dieser weltweit, kollektiv durchlebten und hoffentlich lehrreichen #stayhome Phase haben viele von uns etwas mehr Zeit zum Durchatmen und auch mehr Zeit zum Lesen und Zuhören. Zeit, mal anderen Leuten zuzuhören: Wissenschaftlern, Philosophen, Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, ja sogar Nachrichtensprechern. Und wir hören alle jeden Tag, welche neuen Zahlen die Johns-Hopkins-University aus Baltimore vermeldet . Zum Einschlafen hören wir nicht mehr True-Crime-Podcasts, sondern das Coronavirus-Update von NDR Info mit Dr. Christian Drosten, dem Leiter der Virologie der Berliner Charité.
Und wir hören Slavoj Žižek zu, einem der wichtigsten Philosophen unserer Zeit, der aus der Quarantäne in Ljubljana radikale Veränderungen fordert, die jetzt notwendig seien, um unser System zu retten. Er hinterfragt den globalen Kapitalismus in seiner jetzigen Form und konstatiert: „Epidemien wie diese machen uns klar, wo die Grenzen unseres neoliberalen Wirtschaftssystems liegen.“ Eine „De-Globalisierung“ jedoch, ist seiner Meinung nach jetzt definitiv die falsche Antwort auf die globale Krise, es müsse vielmehr „eine andere Form der Globalisierung“ geben. Zudem fordert er eine bessere internationale Kooperation und weltweite Koordination, um die globalen Krisen zu meistern, die sich in Zukunft wohl häufen werden. Žižek vermutet: „Es wird nicht einfach alles wieder normal werden. Nur zum Teil, aber was wir dann normal nennen, wird anders sein, als was wir kannten. Wir alle werden viel mehr die Zerbrechlichkeit unserer Situation wahrnehmen.“
Der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht von „Bifurkationen“, also historischen Momenten, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert und sieht uns jetzt in so einer Phase. Er zeichnet ein positives Szenario für die Zeit nach bzw. mit Corona („Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen“) und prophezeit: „aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven.“
Der Kulturtheoretiker und Denker im Dienst Bazon Brock teilt den Optimismus einiger Zukunftsforscher überhaupt nicht. Er bezweifelt, dass die Welt nach Corona eine geläuterte und bessere sein wird und erwartet keineswegs einen „Rausch des Positiven“, wie Horx. Brock sieht jedoch in der Isolation, in der Einschränkung und der „Konzentration nach Innen“, eine Chance für die Kreativität und die künstlerische Produktivität. Er erinnert an Thomas Mann, der der Meinung gewesen sei, ohne Isolation, sei keine Kreativität möglich. Zudem, so Brock, böten uns Zeiten wie diese die Chance, den „Dauerbetrieb des Belanglosen“ zu hinterfragen und sich auf das wirklich Wichtige, was uns als Menschen auszeichne, zu konzentrieren.
Vermutlich ist es ein Trugschluss, zu glauben, wir würden alle durch die Krise zur großen Erkenntnis gelangen. Aber sie kann zumindest ein Weckruf sein und uns dazu bringen, manche Dinge zu hinterfragen. Und andere Dinge wieder mehr wertzuschätzen, wie das soziale Miteinander. Vielleicht sind wir nach der Krise aber auch kein bisschen schlauer, sondern einfach nur erschöpft, pleite und wollen am liebsten alles nachholen, was wir verpasst haben. Wer weiß das schon.
Aber was wir wissen: dieser Krise kann man sich nicht entziehen, wirklich jede und jeder ist Teil davon. Das Wort „Pandemie“ kommt aus dem altgriechischen und bedeutet „das ganze Volk“. Und ja, irgendwie hat es das ganze Volk erwischt. Im Guten wie im Schlechten. Versuchen wir mal, diese Auszeit anzunehmen, um einmal kurz aus dem Performance- und Erfolgswettlauf auszusteigen und innezuhalten. Versuchen wir mal, diese temporäre Isolation für die „Konzentration nach Innen“ im Brock’schen Sinne zu nutzen.
Und lasst uns nach der Krise mit mehr Dankbarkeit und Respekt wieder aufeinander zugehen – dann hoffentlich näher als 1,5 Meter. Vieles wird sich ändern müssen, aber einiges kann auch so bleiben: Man darf übrigens auch nach der Krise noch Musik auf dem Balkon machen, für seine Nachbarn einkaufen und sich um die Schwächeren in der Gesellschaft kümmern. Und dass die beliebtesten Emojis jetzt Herzen und Klorollen sind, kann auch gerne so bleiben.
Malte Bülskämper ist Texter und Kreativdirektor aus Berlin. In seiner Kolumne schreibt er über die kleinen Absurditäten des Alltags in unserer Kommunikationsgesellschaft