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Editorial Die Liebe in Zeiten von Corona

Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar.
Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar.
© Gene Glover
Immer mehr suchen nach einem Sinn in dieser Krise: Erwächst aus Corona auch etwas Gutes? Das Virus selbst ergibt keinen Sinn – was wir daraus machen, vielleicht schon

Ach herrje, was macht dieses Virus mit uns – außer natürlich, dass es unsere Lungen befällt? Wie verändert es uns? Wie erleben wir Selbstisolation und Kontaktsperre? Gibt es ein Leben nach dem Homeoffice? Fragen über Fragen und Leere, die Bedeutung sucht, Tage ohne Pläne, die nicht sinnlos sein dürfen. Wo ist die Zukunft jenseits von „nach Ostern“ und „Ende Mai“?

Tatsächlich ist schon das erste Buch zur Corona-Pandemie erschienen: Es heißt „In Zeiten der Ansteckung“, klar, das klingt fast wie „Die Liebe in Zeiten der Cholera“. Geschrieben hat es der italienische Bestsellerautor Paolo Giordano, 1982 wurde er in Turin geboren, er hat Physik studiert. 2008 hat er „Die Einsamkeit der Primzahlen“ geschrieben, das in über vierzig Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Giordano sagte dem „Spiegel“ über seine Motive: „Anfangs gab es ja einige Verwirrung über verschiedene Szenarien. Ich kenne mich aus mit Zahlen, und einer der besten Wege, die Situation zu verstehen, war über die Mathematik.“

Und er wollte natürlich Sinn stiften, eine Geschichte erzählen. Sinn suchen und stiften, das wollen derzeit viele. Ich würde mich da nicht mal ausnehmen.

Dagegen regt sich jetzt auch Kritik, gegen eine künstliche Sinnsuche in den ganzen Blogs, Corona-Tagebüchern und Notizen. Der „Spiegel“ ätzte über die Heulsusen im Homeoffice , die „FAZ“ lästere über die neue „Zuversichtsprosa “. Die Isolation zu Hause werde zur „Chance auf Erneuerung“ stilisiert, meist aber nur auf Kalenderspruchniveau und unheimlich kitschig. Fazit: Wo erzwungene Leere sei, bleibe nun mal Leere.

Die Sinnsuche gehört zum Menschen dazu. Aber wir sollten tatsächlich bedächtig sein. Natürlich kann jeder schreiben und sagen, was er will und jeder in seiner Selbstisolation darüber nachdenken, was diese Zwangsentschleunigung mit ihm macht, und ob es so sinnvoll war, davor dauernd über den Globus und durchs Land zu hetzen. Wir alle erleben ja diesen Nullpunkt, werden auf uns selbst zurückgeworfen. Wir müssen das Virus und die Wirtschaftskrise da draußen verstehen, und in unseren eigenen vier Wänden, was mit uns, unserem Leben, unserem Job und vielleicht auch mit unserer Familie passiert.

Wenn das Haus abbrennt – endlich neue Möbel?

Es ist allerdings gefährlich, künstlich Sinn in dieser Krise suchen. Dieses Virus ergibt keinen Sinn, es infiziert, wütet und zerstört, Gesundheit, Menschenleben und Existenzen. Wenn unser Haus abbrennt, sagen wir auch nicht: Jetzt können wir darüber nachdenken, ob wir uns endlich neu einrichten. Oder ob wir zu viel Kram hatten und wir unser neues Wohnzimmer anders streichen. Nein, zunächst einmal hat man das Haus verloren.

Deswegen steht im Zentrum unserer Bemühungen immer noch die Katastrophe und ihre Bewältigung. Wir sollten weiterhin nüchtern auf die nackten Zahlen schauen, auf die Zahl der Neuinfizierten, die Infektionsrate, die Folgen für die Wirtschaft, den möglichen Einbruch, und das, was wir mobilisiert haben. Und diese Zahlen sprechen eine ganz klare Sprache: Es gibt Hoffnung, aber es bleibt ernst. 650.000 Betriebe in Kurzarbeit, 17 Millionen neue Arbeitslose innerhalb von drei Wochen in den USA, eine Million brauchen Hilfe in Großbritannien, 800.000 in Spanien. Dagegen: immer neue Milliarden, neue Billionen. Allein die US-Notenbank Fed hat diese Woche eine weitere Finanzspritze im Wert von 2,3 Billionen Dollar versprochen.

Und dann gibt es Zahlen der Hoffnung: Die Zahl der Neuinfizierten steigt in vielen Ländern nicht mehr so schnell, wächst nicht mehr unkontrolliert. Wir werden uns wohl stückweise öffnen nach Ostern, aber wir brauchen Geduld, es geht nicht sofort von Null auf Hundert.

Die Sinnsuche hat manchmal auch etwas Intellektuelles, Elitäres. Das gilt auch für das Homeoffice, über das ich auch schon geschrieben habe. Mir geht es gut, ich kann meine Arbeit machen. Viele können ihre Arbeit nicht mehr machen, oder sie müssen ihre Arbeit unter großen Gefahren erledigen: all die Krankenschwestern, Pfleger, Ärzte, Paketboten, Kassiererinnen, Busfahrer, Lagerarbeiter und Lkw-Fahrer. Sie sind die neuen Helden der Arbeit, und es ist gut, dass wir das erste Mal bewusster auf diese Berufe schauen.

Vielleicht sagen wir jetzt manchmal danke, wenn wir ein Paket liefert bekommen. Davor haben wir nur geschimpft, wenn das Auto von DHL oder Hermes mal wieder die Straße blockiert hat oder der Paketbote das Paket nicht an den richtigen Ort abgelegt hat. Es gibt sogar Pläne, dass Pfleger einen Bonus bekommen soll. Bayern hat schon einen Anfang gemacht. Das ist mehr als gerechtfertigt. Ein Bonus für die Helden der Arbeit.

Bei Regen brennt die Tapete

Was ich sagen will: Wir sollten nicht künstlich Sinn suchen, wenn wir aber Sinn finden, dann hatte diese Krise etwas Gutes. Wenn wir etwas Quatsch, Gehetztsein, Überfluss, Kram, Bullshit, Tempo und alles, was sonst noch aus unserem Leben quillt, überdenken oder gar aussortieren – gut. Ich zum Beispiel habe mir vorgenommen, dass ich manche Termine künftig einfach per Video mache. Dieser berühmte Termin in München, man fliegt hin, eine Stunde vorher am Flughafen, anderthalb Stunden bis man in München drin ist, dann der Termin, dann wieder anderthalb Stunden raus, eine Stunde warten, Ankunft in Berlin-Tegel. Selbst wenn man sich zwei oder drei Termine nach München, Hamburg oder Frankfurt legt – muss man immer hinreisen und -hetzen? (Ich bin mal gespannt, ob man sich an all diese Vorsätze hält, das ist ja wie mit Schokolade essen.)

Einigen wird nach vier Wochen Homeoffice und Selbstisolation sicher auch die Decke auf den Kopf fallen. Von vielen Familien hört man: Es reicht mit parallel Job und Hausaufgaben, der Schule zu Hause, dem Leben ohne Pläne, Hobbys und Ausflüge. Stimmt alles. (Ein Glück war das Wetter gut, bei Regen hätte die Tapete schon früher gebrannt.) Aber haben wir unsere Familie nicht auch ganz anders und viel intensiver gespürt? Der Nullpunkt hat etwas Elementares, und damit bei all den Sorgen, die zu Recht im Vordergrund stehen, auch etwas Reinigendes.

Sicherlich ist es für viele in diesem Jahr ein anderes Osterfest, gerade wenn man es gewohnt war, in großen Familien zu feiern. Kinder bleiben allein, Eltern, Großeltern. Es wird stiller sein, in einer Zeit der Stille und des „rasenden Stillstands“, wie neulich ein Arzt es ausdrückte. Haben wir weiter Geduld. Machen wir das Beste draus.

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