Wer deutsche Chemiekonzerne nach den Gründen für ihre derzeitige Misere fragt, erhält grundsätzlich immer die gleiche Antwort: Auf Platz eins ihrer Sorgen steht die Belastung durch staatliche Regulierungen und bürokratische Auflagen. So auch das Ergebnis der jüngsten Verbandsumfrage aus der vergangenen Woche. Ob dieser Faktor aber wirklich so stark und unmittelbar auf die Gewinn- und Verlustrechnung der Konzerne durchschlägt, darüber kann man trefflich schreiten.
Der antibürokratische Reflex gehört bei solchen Befragungen sozusagen zum guten Ton. Interessanter (und wahrscheinlich sehr viel wichtiger) ist die Klage über hohe Arbeitskosten. 88 Prozent der Unternehmen sprechen hier von einer „sehr schweren“ oder „schweren“ Belastung. Die Energiekosten, über die Chemielobbyisten in den vergangenen Jahren so lautstark jammerten, spielen dagegen nur noch für die Hälfte der Befragten eine größere Rolle.
In der Tat liegt das Lohnniveau in der Chemie weit über anderen Branchen. Zum Grundlohn gesellen sich etwa bei BASF äußerst viele Sonderleistungen. Nacht-, Sonntags- und Feiertagszulagen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Erfolgsbeteiligungen und Prämien, Anreize zum Kauf von Aktien und betriebliche Altersvorsorgemittel summieren sich zu sehr hohen Beträgen pro Arbeitnehmer.
Die Reallöhne kannten in der Chemie zwei Jahrzehnte lang, zwischen 2000 und 2020, nur eine Richtung: steil nach oben. Erst mit der Covid-Krise kam ein Einbruch, der jedoch nicht lange währte. Seit 2023 führt die Kurve wieder stark bergauf. In der Tarifrunde 2024/25 sicherten sich die Arbeitnehmer ein Gesamtplus von 6,85 Prozent bei einer Laufzeit von 20 Monaten. Außerdem setzte die Gewerkschaft IGBCE weitere freie Tage durch – unter anderem für „Gewerkschaftsjubiläen“. Kein Wunder, dass der Verhandlungsführer der IGBCE von einem „neuen Kapitel der Tarifpolitik“ sprach.
Die „hohen Arbeitskosten“, über die jetzt die Konzerne klagen, sind also weitgehend selbst verschuldet. Natürlich schlagen auch gestiegene Arbeitgeberbeiträge aus den Sozialversicherungssystemen auf die Unternehmen durch. Aber sie sind kein entscheidender Faktor verglichen mit den höheren Löhnen selbst. Durch ständige Zugeständnisse an die Gewerkschaften haben sich die Chemiekonzerne in der Vergangenheit vor allem eines erkauft: Ruhe im Betrieb. Von Seiten der IGBCE gab es im Gegenzug auch keine Kritik an den zahlreichen Managementfehlern in den Unternehmen – anders als etwa in der Eisen- und Stahlindustrie, wo die IG Metall häufiger im Kampf mit den Vorständen liegt und auch in Aufsichtsräten gegen die Eigentümerseite stimmt.
In der Öffentlichkeit gibt sich die Chemie gern als Branche, die um ihr Überleben kämpft. Wenn es aber um die Entlohnung der eigenen Mitarbeiter geht, schüttet sie immer noch das Füllhorn wie in den goldenen Zeiten der Industrie aus. Und auch die Vorstandsmitglieder profitieren von dieser Versorgungsmentalität: Die „Zielgesamtvergütung“ von BASF-Chef Markus Kamieth liegt bei 7,85 Mio. Euro. Ziemlich viel für einen Konzern, der seinen Aktionären immer weniger bietet.