Jede Reise, sei sie auch noch so lang, beginnt mit einem einzelnen Schritt. Ähnlich ist es mit unserem Weg durch die Corona-Pandemie. Es wird ein langer und steiniger Weg sein. Und wir wissen auch nicht, wo er endet, auch wenn es schwer fällt, sich darüber keine Gedanken zu machen. In dieser Lage ist eines zentral: Wenn wir auf dem schmalen Pfad zwischen hohen Todeszahlen auf der einen und einer wirtschaftlichen Katastrophe auf der anderen Seite nicht straucheln wollen, dann müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit den nächsten Schritten widmen. Auf jedem dieser Schritte lauern Gefahren, die zu einer chaotischen Zukunft führen können. Und selbst wenn es gelingt, diese Gefahren in den Griff zu bekommen, heißt das noch lange nicht, dass alles sofort wieder so wird wie zuvor. Dazu brauchen wir mindestens ein wirksames Medikament oder einen Impfstoff gegen das Coronavirus. Und damit wäre nur das medizinische Problem gelöst. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden werden noch deutlich länger andauern.
Die Industrieländerorganisation OECD hat bereits analysiert, was unseren Volkswirtschaften bevorsteht. Wie haben es hier nicht mit einer normalen Rezession oder Depression zu tun, in der ein Einbruch der Nachfrage eine Kettenreaktion auslöst. In dieser Krise wird ein Großteil des Wirtschaftslebens einfach abgeschaltet – entweder, weil die Menschen Angst vor zu engen Sozialkontakten haben oder weil ihre Regierungen sie dazu zwingen zuhause zu bleiben. Der unmittelbare Effekt dieses Shutdowns kann gewaltig sein: Die Forscher rechnen für die sieben führenden Industrienationen mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 20 und 30 Prozent. Jeder Monat, in dem unsere Volkswirtschaften zu großen Teilen brach liegen, dürfte das jährliche Wirtschaftswachstum um zwei Prozentpunkte drücken.
Auch wenn die Einschränkungen alle treffen, so sind ihre Kosten doch ungleich verteilt. Ungelernte Arbeiter sind stärker von Arbeitslosigkeit bedroht als andere Berufsgruppen. Wer online arbeiten oder Geschäfte machen kann, der kann einfach weiter machen. Aber es gibt viele, die das nicht können. Auch im internationalen Vergleich gibt es große Unterschiede. Schwellenstaaten und Entwicklungsländer leiden unter dem Einbruch der Exporte, den fallenden Rohstoffpreisen und der ungeheuren Kapitalflucht – und zugleich sind ihre schlechten Gesundheitssysteme nicht geeignet, der Pandemie angemessen zu begegnen. Für Staaten, die nur mangelhafte oder gar keine Sozialsysteme kennen, sind Ausgangssperren besonders brutal. Viele Menschen dort sind ausschließlich auf ihre täglichen Einkünfte angewiesen.
Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, ob ein solches ökonomisches Gemetzel zu verantworten ist. Und wenn diese Krise einmal vorbei ist, werden wir Gelegenheit haben, uns analytisch damit zu beschäftigen. Interessant ist zum Beispiel der Vergleich zwischen den beiden skandinavischen Staaten Schweden und Norwegen. Während Norwegen wie viele andere Länder eine strikte Politik der Kontakt-Beschränkung verfolgt, hat Schweden unter allen Hochlohnländern den wohl laxesten Kurs eingeschlagen. Die Folgen sind sichtbar: Zwar ist auch in Schweden die Arbeitslosigkeit gestiegen, aber deutlich weniger als im nordischen Nachbarland. Zugleich aber sind in Schweden deutlich mehr Menschen gestorben als in Norwegen. Das schwedische Experiment kann hilfreich sein, wir werden daraus lernen können. So oder so.
Ich bin, ähnlich wie die meisten Mediziner und Ökonomen, überzeugt, dass der Stillstand unserer Volkswirtschaften nötig ist, um unsere Gesundheitssysteme vor dem Kollaps zu bewahren und die Krankheit unter Kontrolle zu bekommen. Aber dieser Lockdown muss auch ein Ende haben. Wir können die Menschen nicht auf ewig einsperren, ohne damit unsägliches Leid, gesellschaftliche Schäden und ökonomische Verluste zu verursachen. Das gilt vor allem für all die Länder, in denen die Regierungen ihren Bevölkerungen nicht solche sozialen Schutzschirme anbieten können wie die reichen Staaten.
Die Vollbremsung der Wirtschaft gibt uns eine kurze Atempause, bevor wir in eine Phase eintreten, die eine Expertengruppe als "Strategie der Risikoanpassung" bezeichnet hat. Während dieser Atempause müssen die Regierungen alles tun um zu verhindern, dass solche schweren Eingriffe in das Leben erneut nötig werden. Das darf auch nicht zu lange dauern, allerhöchstens ein paar Monate. Sonst können wir nur noch den schwedischen Weg gehen.
Der erste Schritt ist also, den Lockdown zu nutzen, um zu vermeiden, dass wir ihn wieder brauchen. Im zweiten Schritt geht es darum, den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Und zwar jetzt sofort, ohne Rücksicht auf hohe Staatsschulden oder andere Belastungen, die uns in der Zukunft beschäftigen könnten. Es ist wie im Krieg. Wir müssen das Überleben jetzt sichern, wenn wir überhaupt eine Zukunft haben wollen, die diesen Namen verdient.
Natürlich muss die Wirtschaft so rasch wie möglich wieder ans Laufen gebracht werden. Darüber hinaus gibt es drei wichtige Ziele.
Erstens: Schützen wir die Schwachen! Jedem, der nicht arbeiten kann, muss ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gewährt werden. Zum Beispiel wäre es denkbar, vorübergehend ein allgemeines Grundeinkommen einzuführen, wie es seit langem diskutiert wird. Doch die Unterstützung für die Schwachen und Verletzlichen muss auch für den Umgang der Staaten untereinander gelten. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. So könnte der Internationale Währungsfonds im großen Stil neue Sonderziehungsrechte ausgeben. Die reichen Staaten könnten ihren Anteil spenden und in einen Topf einzahlen, der den am stärksten gefährdeten Entwicklungsländern zugute kommt. Auch Schulden sollten für die Dauer der Krise nicht mehr bedient werden müssen.
Zweitens: Machen wir nichts kaputt! Der größte Fehler wäre es, unsere internationalen Handelssysteme jetzt völlig auszubremsen. Sie sind entscheidend, um global wieder auf die Beine zu kommen, wenn die Krise vorüber ist.
Drittens: Trennen wir uns von unseren Dogmen! Viele Regierungen haben ihre fiskalischen Regeln schon über den Haufen geworfen, und das ist auch gut so. Auch Zentralbanken müssen alles tun, was in ihrer Macht steht. Das bedeutet auch, dass sie mit ihrem Geld Staatsdefizite finanzieren müssen. Sie tun das im Grunde bereits jetzt, auch wenn sie sich weigern es so zu nennen. In der Eurzone wird nun viel über Eurobonds oder Coronabonds gesprochen, also gemeinschaftliche Anleihen zur Schuldenfinanzierung. Aber der wirklich entscheidende Impuls wird von der Europäischen Zentralbank kommen müssen. Es gibt dazu keine Alternative. Was die Folgen angeht, so gibt es immer Wege damit umzugehen, aber in einer tiefen Krise wie dieser ist vieles gerechtfertigt. Sogar "Helikoptergeld", also eine Ausweitung der Geldmenge, bei der das neue Geld direkt an die Bürger ausgezahlt wird.
Es wird in einer solchen Notsituation aber noch zu deutlich schmerzhafteren Entscheidungen kommen. Möchtegern-Autokraten werden versuchen, die Kontrolle über ihre Länder auszuweiten. Zugleich allerdings müssen gewisse bürgerliche Freiheiten zumindest zweitweise tatsächlich aufgegeben werden. Um da die Balance zu wahren, müssen wir vertrauen und Regierungen müssen sich als vertrauenswürdig erweisen. Das gehört nicht zu den Stärken heutiger Demokratien. Aber sie müssen sich jetzt beweisen. Regierungen, die mit diesem Problem nicht fertig werden, werden kaum überleben. Und politische Systeme, die derartige Regierungen hervorbringen, könnten ihre Legitimation verlieren.
Unsere nächsten Schritte müssen die richtigen sein. Es geht um alles.
The Financial Times Limited 2020