Die Proteste in Hongkong wollen nicht enden. Seit Wochen versammeln sich fast täglich Schüler, Studenten und junge Angestellte in den Hochhausschluchten von Kowloon oder Wan Chai. Was als Widerstand gegen ein neues Auslieferungsgesetz begann, verwandelt sich zunehmend in den Aufstand einer ganzen Generation gegen die Führung in Peking und ihre Sachwalter in Hongkong. Die jungen Bürger der Sonderverwaltungszone trauen den Mächtigen nicht mehr, die Schritt für Schritt von ihrem Versprechen abrücken, Hongkongs unabhängiges Rechtssystem zu respektieren.
Chinas Staatspräsident Xi Jinping bringt aber nicht nur die Hongkonger Jugend gegen sich auf, sondern auch immer größere Teile der Wirtschaftselite. Zuerst protestierten 1800 Anwälte mit einem Schweigemarsch gegen ein Gesetz, das Abschiebungen Hongkonger Bürger nach Festlandchina ermöglichen sollte. Dann schlug sich sogar die General Chamber of Commerce auf die Seite der Protestler, die rund 4000 Unternehmen vertritt und so manchen „Tai-Pan“ zu ihren Unterstützern zählt. Diese berühmten Milliardäre der Stadt vermieden bisher jede öffentliche Kritik an der chinesischen Führung. Aber ohne ihr Plazet wäre die Erklärung der Handelskammer wohl nie erschienen.
Zwar haben die konservativen Unternehmer mit den Forderungen der jungen Demonstranten nicht viel am Hut. Von demokratischen Wahlen in Hongkong zum Beispiel halten die wenigsten etwas. Aber auch sie gehen auf die Barrikaden, wenn es um die Verteidigung des angelsächsischen Rechtssystems der Stadt geht. Als Briten und Chinesen in den 80er-Jahren die Rückgabe der Kronkolonie verhandelten, erklärte die Business-Community diesen Punkt zur Conditio sine qua non. Deng Xiaoping, damals Chinas starker Mann, erfand deshalb die berühmte Formel „Ein Land, zwei Systeme“.
Als ich kurz vor der offiziellen Übergabe 1997 mit dem Milliardär Victor Fung über die Zukunft der Handelsmetropole sprach, zählte er drei Bedingungen für den Erfolg der Stadt auf: ein selbstständiges Zollgebiet, ein eigenes Währungsregime – und vor allem „unser eigenständiges Gerichtswesen mit höchstrichterlichen Entscheidungen“.
Wenn Pekings Vertreter heute an diesem Pfeiler der Hongkonger Gesellschaft rütteln, geht es um viel mehr als die Stadt mit ihren 7,4 Millionen Einwohnern auf gerade einmal 1100 Quadratkilometern. Die eigentliche Frage lautet: Können die Eliten in ganz China dem politischen Grundversprechen ihrer Führer noch trauen, wirtschaftliche Stabilität stets an die erste Stelle zu setzen? Und finden sie einen politischen Ausweg in Hongkong? Oder schlägt Xi Jinping einen Kurs ein, der wie 1989 in Peking in einem Blutbad enden muss , nur um die absolute Macht der KP zu zementieren?
Schon spricht mancher Hongkonger von der „Gefahr eines zweiten Tiananmen“. Die Armee trainiert bereits, wie man Proteste mit Waffengewalt auflöst. Vor der Machtübergabe von 1997 garantierte Deng Xiaoping Hongkongs Autonomie für weitere 50 Jahre – „mindestens“. Nun muss man fürchten: Alles könnte schnell vorbei sein. Die Folgen für ganz China wären entsetzlich.
Bernd Ziesemer war Chefredakteur des „Handelsblatt“. In der Kolumne „Déjà-vu“ greift er jeden Monat Strategien, Probleme und Pläne von Unternehmen auf – und durchleuchtet sie bis in die Vergangenheit.