Inflation, Ukrainekrieg, Zinswende und zuletzt der Kurssturz an den Aktienmärkten – die deutsche Wirtschaft hat turbulente Monate hinter sich. Das macht sich auch bei der Marktkapitalisierung bemerkbar: Unter den 100 wertvollsten Unternehmen, die der Wirtschaftsprüfer EY jährlich in einem Ranking ermittelt, ist Ende Juni kein einziges aus Deutschland vertreten – zum ersten Mal seit der ersten Veröffentlichung des Rankings vor 16 Jahren.
Der deutsche Konzern, dessen Marktkapitalisierung den Top 100 am nächsten kommt, ist der Softwarehersteller SAP. Mit einem Börsenwert von 106 Mrd. US-Dollar landeten die Walldorfer immerhin auf Platz 113, dicht gefolgt von der Deutschen Telekom (Börsenwert: 98 Mrd. Dollar) auf Platz 120. Der Industriegasekonzern Linde belegt im Ranking zwar Platz 74, hat seinen Hauptsitz seit seiner Fusion mit Praxair allerdings in Irland.
Seit Jahren schon sind deutsche Konzerne unter den Top 100 des Rankings eine Seltenheit. Waren es 2007 noch sieben, gehörten mit SAP und Siemens Ende 2021 nur noch zwei dazu. Neben Deutschland schwächelt auch Europa im weltweiten Vergleich deutlich. Hatte fast die Hälfte der wertvollsten Firmen 2007 ihren Hauptsitz in der EU, war es 2022 nur noch etwa jedes Sechste. Das wertvollste europäische Unternehmen ist im aktuellen Ranking der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé auf Rang 20.
Nachholbedarf bei der Digitalisierung
Ein Blick auf die Branchen gibt dabei bereits einen ersten Hinweis für den rückläufigen Trend. Von den 23 Techkonzernen des Rankings stammen nur zwei aus Europa, der Löwenanteil von rund 17 Unternehmen kommt aus den USA. „Europa leidet aus Sicht vieler Investoren nach wie vor unter einem Mangel an vielversprechenden Technologiekonzernen von Weltformat“, bilanziert Henrik Ahlers, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY.
Im IT-Sektor treiben vor allem US-Firmen die Digitalisierung voran. Allein unter den ersten zehn Plätzen sind vier amerikanische Techriesen, darunter Microsoft, Alphabet, Amazon und Meta. „Als Gestalter dieses technologischen Wandels spielen allenfalls noch asiatische Konzerne eine Rolle – europäische Konzerne hingegen kaum“, sagt Ahlers.
Gleichzeitig seien auch Faktoren rund um die Unternehmensgründung, wie eine höhere Risikobereitschaft, eine größere gesellschaftliche Akzeptanz von Unternehmertum und teils deutlich bessere Finanzierungsbedingungen entscheidend. „Vor allem in den USA ist es jungen Unternehmen gelungen, völlig neue Konzepte und Geschäftsmodelle zu entwickeln und damit ganze Branchen zu revolutionieren“, beobachtet Ahlers. „Europa hat in all diesen Bereichen Nachholbedarf.“
Trotzdem mussten auch viele hoch bewertete Wachstumsunternehmen, darunter allen voran Techfirmen, durch die Zinswende heftige Kurseinbrüche hinnehmen. Unter den Top 100 büßten die Techkonzerne mehr als ein Viertel ihres Börsenwertes ein. Im Ranking sank ihr Anteil von 27 auf 23 Unternehmen. Künftig werde sich das auch im Hinblick auf die Erwartungen der Investoren bemerkbar machen. „Zuletzt setzten Investoren eher auf Profitabilität als auf Wachstum. Das Geld sitzt nicht mehr so locker, die Anforderungen an Zielunternehmen und ihre Finanzkennzahlen steigen“, sagt Ahlers.
Trotzdem werde der Digitalisierungsschub, den die Coronapandemie verstärkt hat, auch in den kommenden Jahren eine große Rolle spielen. Deutsche Konzerne hätten daher weiterhin Potenzial, mittelfristig zu den Gewinnern dieser Entwicklung zu gehören. „Die Art und Weise, wie in Zukunft produziert wird, wird sich weiter verändern. Deutsche Industriekonzerne können diese Entwicklung entscheidend prägen und in diesem Bereich US-Konzernen Paroli bieten“, so Ahlers.
Insgesamt haben haben die Ereignisse der letzten Monate auch Spuren bei den führenden Konzernen im Ranking hinterlassen. Insgesamt haben die hundert wertvollsten Unternehmen in der ersten Jahreshälfte rund 17 Prozent an Marktkapitalisierung – umgerechnet etwa 6,1 Billionen Dollar – eingebüßt. Der Gegenwert ihrer Firmenaktien belief sich Ende Juni auf 29,8 Billionen Dollar. Öl- und Gasunternehmen steigerten ihre Marktkapitalisierung aufgrund des Ukrainekrieges dagegen fast um ein Fünftel. Ahlers rechnet damit, dass auch die zweite Jahreshälfte noch schwierig wird: „Die Hiobsbotschaften häufen sich, viele Krisen, die sich teils gegenseitig befeuern, müssen bewältigt werden, die Gefahr einer weltweiten Rezession ist inzwischen real.“