In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: Altersarmut – mit Redakteur Thomas Steinmann, der bei Capital schwerpunktmäßig für Energie- und Sicherheitspolitik zuständig ist.
Deutschland ist beim Ausbau der Erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren gut vorangekommen. Bei vielen Bürgern gibt es jedoch erhebliche Widerstände gegen den Bau von Windparks und Stromtrassen. Woher kommt die Abneigung?
In der alten Energiewelt hat man als Verbraucher ja nie etwas von der Stromproduktion gesehen. Die wenigsten Bürger haben ein neues Kraftwerk vor die Nase gesetzt bekommen – erst recht nicht in den vergangenen Jahren. Bei den erneuerbaren Energien verhält sich das anders. Windparks und Solaranlagen sind überaus sichtbar in der Landschaft. Der Bau verläuft dezentral, und so sind viele Bürger zumindest indirekt von ihnen betroffen. Der Widerstand gegen Stromtrassen oder Windräder resultiert häufig aus drei verschiedenen Faktoren: die optische Beeinträchtigung der Landschaft, der mögliche Wertverlust von Immobilien durch nahestehende Windräder und die Sorge vor eventuellen gesundheitliche Nebenwirkungen, Stichwort Infraschall.
Tierschützer verweisen zudem auf die Gefahr, dass Vögel in die Rotoren geraten können – insbesondere an Standorten, in deren Nähe geschützte Vogelarten wie der Rotmilan oder der Schwarzstorch nisten. Schon heute stehen in Deutschland knapp 30.000 Onshore-Windräder. Da kann man sich ausrechnen, dass es viele Gegenden gibt, in denen der Missmut groß ist und laut geäußert wird.
Ohne Onshore-Windkraft geht es nicht
Wie könnte man den Ausbau der Windenergie denn so gestalten, dass er vor Ort auf mehr Akzeptanz stößt?
Ein allgemeines Rezept gibt es nicht. Als eine Möglichkeit wird immer wieder genannt, dass sich die Bürger vor Ort an Windparks beteiligen können, damit sie von den Projekten wirtschaftlich profitieren. In die gleiche Richtung gehen Ideen, die Kommunen stärker an den Einkünften der jeweiligen Projekte partizipieren zu lassen. Das mag manche Kritiker überzeugen. An vielen Standorten hört man etwa auch das Argument, dass von den Anlagen ja ausschließlich irgendwelche Projektierer und Erneuerbaren-Firmen profitieren.
Aber wer beispielsweise Windräder für ein Gesundheitsrisiko hält, der wird sich auch auf diese Weise nicht überzeugen lassen. Insofern ist die Hoffnung auf breite Akzeptanz ein Stück weit utopisch. Und nach meinem Gefühl ist der Kampf um Windräder auch ein Stück weit zu einem Stellvertreterkonflikt geworden – ein Ventil, um Ärger über „die Politik“ zu artikulieren. Insbesondere in ländlichen Räumen, wo es auch um andere Probleme geht. Denn was man bei allen Debatten über Abstandsregelungen und Akzeptanz nicht vergessen darf: Früher hat man die Menschen auch nicht gefragt, ob sie Lust haben, neben einem Kraftwerk zu leben. Deshalb ist es wichtig, dass die Politiker in Bund und Ländern und vor allem in den Kommunen den Bürgern nicht suggerieren, dass die Energiewende auch ohne neue Windräder und gewisse Beeinträchtigungen funktionieren kann. Onshore-Windkraft wird als Rückgrat der Energiewende zwingend benötigt .
Abschreckend für Investoren
In letzter Zeit ist die Zahl der neu aufgestellten Windräder rapide gesunken. Bis einschließlich November 2019 sind nur etwa 160 Windkraftanlagen neu gebaut worden, 2018 waren es im Gesamtjahr rund 740. Woran liegt das?
Für das Abwürgen der Windenergie sind mehrere Faktoren verantwortlich. Erstens gibt es vermehrt Klagen gegen neue Projekte – zum einen natürlich von Anwohnern, zum anderen von Naturschutzverbänden wie dem Nabu, der neue Windparks unter Verweis auf den Arten- und Vogelschutz verhindern wollen. Die Klagen gegen Genehmigungen und die daraus resultierende zunehmende Zurückhaltung der Behörden führen dazu, dass ein Genehmigungsverfahren heute im Schnitt rund 60 Monate dauert. Das ist für Investoren extrem abschreckend – zumal auch nicht klar ist, wie das Verfahren ausgeht und ob die Behörde nicht zusätzliche Auflagen erlässt. Mir ist ein Projekt bekannt , bei dem die Verwaltung die Genehmigung mit mehr als 100 Auflagen und Einschränkungen gespickt hat. Solch ein Projekt ist kaum noch wirtschaftlich zu betreiben. Bei einer Verfahrensdauer von fünf Jahren sind darüber hinaus auch die Anlagen veraltet, wenn die Genehmigung einmal vorliegt.
Aus diesen Gründen haben große Energiekonzerne wie RWE Onshore-Projekte in Deutschland faktisch abgeschrieben und investieren lieber im Ausland. Kleinere Player oder Bürgerwindparks können sich solche langwierigen Verfahren mit ungewissem Ausgang erst recht nicht leisten. Und auch ein zweiter Bremsfaktor führt dazu, dass seit etwa eineinhalb Jahren deutlich weniger Windkraftleistung ans Netz geht als von der Bundesregierung geplant. Denn vielerorts fehlen die Flächen für neue Projekte. Dieses Problem wird durch die jetzt von der Bundesregierung geplante Neuregelung für den Mindestabstand zwischen Windrädern und Wohnbebauung noch drastisch verschärft.
Megaprojekt Netzausbau
Trotzdem kann es vorkommen, dass Windstrom „verschenkt“ wird – also, dass die Windräder nicht ins Netze einspeisen, obwohl der Wind weht. Wie kann das sein?
In Regionen mit besonders vielen Windrädern kommt es vorher, dass die Stromnetze bei kräftigem Wind nicht in der Lage sind, die gesamte produzierte Energie aufzunehmen. Um Engpässe im Netz bis hin zum Blackout zu verhindern, regeln die Netzbetreiber die Anlagen dann ab. Weil die Windräder dann keinen Strom mehr ins Netz einspeisen, müssen die Betreiber der Anlagen entschädigt werden. Diese Entschädigungen finanzieren sich aus den Netzentgelten, also letztlich von allen Stromkunden. Im vergangenen Jahr betrug die sogenannte Ausfallarbeit rund 5400 Gigawattstunden – das entsprach 2,6 Prozent der insgesamt vermarkteten Energiemenge aus erneuerbaren Quellen. Daraus resultierten laut der Bundesnetzagentur Entschädigungen von 635,4 Mio. Euro – mehr als 2017. Beheben ließe sich dieses Problem vor allem durch einen schnelleren Netzausbau.
Rund 7700 Kilometer neue Höchstspannungsleitungen werden in Deutschland im Zuge der Energiewende benötigt, lediglich 1800 Kilometer davon sind bislang genehmigt . Woran hapert es?
Der Ausbau des Netzes ist ein riesiges Infrastrukturprojekt. Die wichtigen Leitungen, die man für die Energiewende benötigt, verlaufen in der Regel durch mehrere Bundesländer. Bei den Ausbauprojekten der ersten Runde (nach dem sogenannten EnLAG) siedelte man die Hoheit der Planung bei den Ländern an. Entsprechend sind nun mehrere Planungsbehörden involviert, zudem kann sich auch das Planungsrecht unterscheiden. Das führt etwa dazu, dass es bei einigen Leitungen bei bestimmten Trassenabschnitten schneller voran geht als bei anderen. Für die geplanten großen Nord-Süd-Gleichstromleitungen und weitere Projekte wurde deshalb 2013 beschlossen, dass die Planung in Bundeshand liegt.
Doch diese Nord-Süd-Trassen wurden dann zum Spielball der Politik . Als sich in Bayern Bürgerinitiativen gegen die Leitungen formierten und die Landtagswahl näher rückte, stellte sich der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer an die Spitze der Trassengegner – obwohl er den Leitungen zuvor im Bundesrat zugestimmt hatte. Über Monate blockierte Seehofer die gesamte Planung im Bund. Erst im Sommer 2015 gab es einen Kompromiss. Dieser sieht vor, dass die Gleichstromtrassen vorrangig unterirdisch verlaufen sollen. Das erhöht nun nicht nur die Baukosten um mehrere Milliarden Euro.
Der Vorrang für die Erdverkabelung führt auch dazu, dass die komplette Planung auf null gestellt werden musste. Eine Kabeltrasse muss anders geplant werden als eine Freileitung. Zudem sind entlang der Trassen Hunderte Landeigentümer betroffen, in deren Boden die Kabel vergraben werden sollen – und die theoretisch klagen könnten. Logischerweise können die Leitungen deshalb nicht so schnell in Betrieb gehen wie geplant – mit der absurden Folge, dass im Süden nun neue Gaskraftwerke als Back-up gebaut werden sollen, die im besten Fall gar nicht laufen. Statt 2023, wenn in Bayern das letzte Atomkraftwerk vom Netz gegangen ist, sollen die Nord-Süd-Stromautobahnen nun 2025 fertig werden. Vermutlich wird es aber noch später.
Massive Einschränkung verfügbarer Flächen
Die Bundesregierung plant eine neue Abstandsregelung für Windräder, um die Akzeptanz bei den Bürgern zu erhöhen. Künftig sollen die Anlagen einen Mindestabstand von 1000 Metern zur nächsten Wohnsiedlung haben. Dafür gab es massive Kritik, nicht nur aus der Windbranche selbst. Ist die Energiewende tatsächlich in Gefahr?
Auf jeden Fall gefährdet die neue Abstandsregelung das erklärte Ziel der Bundesregierung, den Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland bis 2030 auf 65 Prozent zu erhöhen und den Kohleausstieg wie geplant umzusetzen. Als Konsequenz läuft die Bundesregierung auch Gefahr, die völkerrechtlich verbindlichen CO2-Minderungsziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu reißen. Onshore-Wind soll nach den Plänen der Regierung eigentlich die wichtigste Säule der Erneuerbaren sein. Aber der neue Mindestabstand führt dazu, dass die theoretisch verfügbaren Flächen für Windparks massiv eingeschränkt werden, weil Deutschland nun einmal sehr dicht besiedelt ist. Zu diesem Schluss ist in einer neuen Studie etwa auch das Umweltbundesamt gekommen – eine Behörde, die dem Bundesumweltministerium unterstellt ist. Das Problem wird dadurch verschärft, dass die neue Abstandsregelung nach jetzigem Stand nicht nur für neue Windprojekte gelten soll, sondern auch für das sogenannte Repowering, also den Ersatz alter Anlagen durch moderne, deutlich leistungsfähigere.
In den nächsten Monaten und Jahren wird ein großer Schwung von Windrädern aus der Anfangszeit des EEG nach 20 Jahren aus der Förderung fallen und dadurch unwirtschaftlich. Für den Ersatz dieser Anlagen am gleichen Standort sind allerdings neue Genehmigungsverfahren erforderlich. Die bereits erwähnten Hürden bei den Genehmigungen sowie die neue Abstandsregelung können also dazu führen, dass in naher Zukunft unter dem Strich sogar weniger Windkraftleistung installiert ist als heute. Ein verstärkter Zubau bei der Solarenergie oder von Windparks auf hoher See könnten allenfalls einen Teil der Lücke ausgleichen. Daher muss man leider sagen: Bleibt es bei dem geplanten Mindestabstand, legt die Bundesregierung bei der Energiewende eine Vollbremsung hin.