Mit dem Beitrag Skidelskys setzen wir die Kontroverse über die Thesen Rogoffs fort. Der Harvard-Ökonom gilt als Anhänger einer Austeritätspolitik zur Überwindung von Schuldenkrisen. Er selbst sieht das anders. Im Capital-Interview wehrt er sich gegen Kritik an die von ihm und seiner Kollegin Carmen Rheinhart vertretenen Schuldenregel, wonach Schuldenquoten von mehr als 90 Prozent des BIP das Wachstum eines Landes bremsen. Studenten hatten ihm einen Rechenfehler nachgewiesen, was Rogoff auch nicht bestreitet. Seine Thesen seien durch den Fehler aber nicht widerlegt, meint er.
War die Entscheidung der britischen Regierung, nach der globalen Finanzkrise Sparmaßnahmen zu ergreifen, letzten Endes die richtige Politik? Ja, behauptet der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Rogoff in einem viel diskutierten neueren Kommentar. Rogoff argumentiert, obwohl die Regierung rückblickend mehr Kredite hätte aufnehmen sollen, bestand damals die reale Gefahr, dass es Großbritannien wie Griechenland ergehen würde. Schatzkanzler George Osborne ist in dieser Sichtweise ein Held der globalen Finanzwirtschaft.
Um zu zeigen, dass eine reale Gefahr der Kapitalflucht bestand, demonstriert Rogoff anhand historischer Fälle, dass die Bonitätsentwicklung des Vereinigten Königreichs von Glaubwürdigkeit weit entfernt war. Er erwähnt die Einstellung der Zahlungen an die Vereinigten Staaten 1932 für die britischen Schulden aus dem Ersten Weltkrieg, die Schulden, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg angehäuft hatten, und Großbritanniens „wiederkehrende Abhängigkeit von Rettungspaketen des Internationalen Währungsfonds von Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre.“
Was in Rogoffs Analyse fehlt, ist der Zusammenhang, in dem diese angeblichen Verstöße begangen wurden. Die ab 1932 nicht mehr an Amerika zurückgezahlten britischen Schulden aus dem Ersten Weltkrieg bleiben der größte Makel in der Schuldengeschichte des Vereinigten Königreichs, aber der Hintergrund ist entscheidend. Nach dem Großen Krieg wurde die Welt von einem Schuldenberg überschattet, den die siegreichen Alliierten einander und die Verlierer den Siegern schuldeten (dabei waren die USA der einzige Nettogläubiger). John Maynard Keynes sagte richtig voraus, dass alle diese Schulden am Ende nicht zurückgezahlt würden.
Falsche Parallelen
Das Vereinigte Königreich war das einzige Land, das sich bemühte zu zahlen. Nachdem es Großbritannien nicht gelang, das Geld einzutreiben, das andere Länder ihm schuldeten, leistete es zehn Jahre lang weiterhin Zahlungen an die USA und stellte den Schuldendienst erst mitten in der Großen Depression ein.
Rogoffs Diskussion über die Schulden, die nach dem Zweiten Weltkrieg angehäuft wurden, ist nebensächlich. Seine Behauptung, „hätte das Vereinigte Königreich kein Labyrinth aus Regeln und Vorschriften erschaffen, um die Nominalzinssätze für Schulden unter der Inflation zu halten, so hätte seine Schuldenquote in der Zeit zwischen 1945 und 1955 steigen können, anstatt dramatisch zu fallen“, tut nichts zur Sache. Fakt ist, dass es dem Vereinigten Königreich gelungen ist, seine Schulden durch verschiedene aufeinanderfolgende Schritte abzubauen, darunter auch die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums.
Was die „wiederkehrende Abhängigkeit“ Großbritanniens vom IWF von Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre angeht, gab es tatsächlich nur zwei Episoden: die Rettungsaktion während der Suez-Krise 1956 und die Rettung 1976, die dem „Winter of Discontent“ vorausging, als Streiks in vielen grundlegenden Branchen – selbst die Toten wurden nicht begraben – das Land praktisch in die Knie zwangen. (Es muss wohl kaum betont werden, dass die Aufnahme eines Kredits beim IWF keine Zahlungsunfähigkeit darstellt.)
Mitten in der Suez-Krise sah sich Großbritannien 1956 mit einer Attacke von Spekulanten konfrontiert. Das Land verzeichnete zwar einen Leistungsbilanzüberschuss, aber das Pfund rutschte gegenüber dem Dollar ab, so dass die Bank of England ihre Dollarreserven verkaufte, um den festen Wechselkurs zu verteidigen. Als die Reserven des Landes dahinschwanden, war Premierminister Anthony Eden gezwungen, zunächst die USA und dann den IWF um Hilfe zu bitten.
Dramatische Folgen für die Wirtschaft
Die Beteiligung des IWF war nur deshalb notwendig, weil Amerika keine Unterstützung leisten wollte. Außerdem ging US-Präsident Dwight Eisenhower so weit, Amerikas Einfluss innerhalb des IWF dazu zu nutzen, Eden zu einem Abzug der britischen Truppen aus Ägypten zu zwingen, im Gegenzug für den Kredit.
Die Rettungsaktion von 1976 stellt sich sogar noch komplizierter dar. Nach der Krise eröffnete Schatzkanzler Denis Healey, dass der Kreditbedarf der öffentlichen Hand in den 1970ern weit überschätzt wurde und dass das Vereinigte Königreich, hätte er die richtigen Zahlen gehabt, überhaupt keinen Kredit gebraucht hätte. Ihm zufolge erkannte das Finanzministerium nicht einmal, dass Großbritannien einen Steuerüberschuss haben würde.
Selbstverständlich hatte all dies dramatische Auswirkungen auf die Wirtschaft. Tony Benn, ein Kabinettsminister der Labour-Partei in den 1970ern, eröffnete später, dass der Winter of Discontent, der am Ende des Jahrzehnts einer konservativen Regierung ins Amt verhalf, durch die rigorosen Kürzungen staatlicher Ausgaben bedingt war, die der IWF verlangt hatte. „Warum gab es den Winter of Discontent? Weil der IWF 1976 dem Kabinett auftrug: ‚Kürzt die staatlichen Ausgaben um vier Milliarden Pfund, sonst sorgen wir dafür, dass das Pfund Sterling wertlos wird.‘“
Deutschland müsste unten durch sein
Es gibt wenige Beweise für Rogoffs implizite Annahme, dass die heutigen Entscheidungen der Investoren darauf beruhen, wie die Regierung in der Vergangenheit mit ihren Schulden umgegangen ist. Die Zahl der Zahlungsausfälle ist nahezu irrelevant bei einem Land wie dem Vereinigten Königreich, das politisch stabil und ökonomisch von großer Bedeutung ist und über eine unabhängige Zentralbank verfügt.
Nehmen wir Deutschland – laut Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl der „größte Schuldensünder des 20. Jahrhunderts“. In der Tabelle auf Seite 99 der englischen Ausgabe ihres Buchs Dieses Mal ist alles anders zeigen Rogoff und seine Co-Autorin Carmen Reinhart, dass Deutschland von 1800 bis 2008 acht Kreditausfälle und/oder Umstrukturierungen erlebt hat. Zudem gab es noch die beiden Zahlungsausfälle durch die Inflation 1920 und 1923. Und trotzdem ist Deutschland heute Europas wirtschaftliche Hegemonialmacht, die Übeltätern wie Griechenland die Gesetze vorschreibt.
In Wirklichkeit beeinflussen die früheren Fehlschläge eines Landes die Investoren nicht, wenn die aktuellen Institutionen und die Wirtschaftspolitik des Landes intakt sind. Das war eindeutig der Fall, als sich Osborne und seine Kollegen für die Sparpolitik entschieden.
Aus dem Englischen von Anke Püttmann
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