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Thema Der 90-Prozent-Krieg

Kaum eine Zahl hat in der Wirtschaft für mehr Wirbel gesorgt: Oberhalb von 90 Prozent Schuldenstand sinkt in den meisten Ländern das Wachstum. Der Streit in der Übersicht.
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US-Schuldenuhr: Die Verbindlichkeiten steigen rasant

Es war eine Zahl mit einer gigantischen Wirkung. Im Jahr 2010 hatten die beiden Harvard-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart ein Arbeitspapier veröffentlicht, sechs Seiten war es lang, Titel: „Growth in a Time of Debt“.

Darin untersuchten die beiden den Zusammenhang zwischen Schulden, Wachstum und Inflation in insgesamt 44 Ländern, deren Daten sie teilweise bis ins Jahr 1790 zurückverfolgten. Sie teilten das Ganze in vier Gruppen: ein Schuldenstand von null bis 30 Prozent (im Verhältnis zum BIP), von 30 bis 60, 60 bis 90 – und über 90 Prozent. Bis zum Schuldenstand von 90 Prozent fanden sie keinen Zusammenhang. Dann aber sanken die Werte. Oberhalb von 90 Prozent, schrieben sie im Fazit, fallen die Wachstumsraten etwa um einen Prozentpunkt.

Eine Zahl war in der Welt, die Karriere machte. Ökonomen, Politiker und Notenbanker zitierten sie. Rogoff hatte mit Reinhart die wohl berühmteste Zahl dieser Krise gefunden.

Student entzaubert Weltökonom

Bis zum 15. April 2013. Da erschien ein Beitrag von Thomas Herndon, Student an der Universität von Massachusetts, und seinen Professoren, Michael Ash und Robert Pollin, der weltweit für Schlagzeilen sorgte zumal er zeitgleich in der „Financial Times“ erschien und mitten in die Frühjahrstagung des IWF in Washington platzte - oder besser: platziert war.

Es war die perfekte Story: Student entzaubert Weltökonom. Thomas Herndon, ein Student, hatte die Aufgabe erhalten, die Berechnungen von Rogoff und Reinhart zu reproduzieren. Aber er kam zu anderen Resultaten. Er entdeckte, dass in einer Excel-Tabelle die Daten von Australien, Österreich, Belgien, Dänemark und Kanada nicht berücksichtigt wurden. Außerdem, so der Vorwurf, seien Daten unter anderem von Neuseeland nach dem Zweiten Weltkrieg selektiv weggelassen worden. Am Ende stand das Fazit: Die 90-Prozent-Regel ist nicht zu halten.

Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff
Räumt Fehler ein: Ökonom Kenneth Rogoff
© Getty Images

Der Streit ist recht kompliziert, weil sich die Kritiker nur auf eine Datenreihe – die von 1946 bis 2009 – beziehen, was Rogoff auch beklagt. Diese fällt aus dem Rahmen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg viele Staaten sehr hoch verschuldet waren. Rogoff und Reinhart legten deshalb eine längere Datenreihe zugrunde, die bis 1790 zurückging. Außerdem hatten sie immer Durchschnitts- und Medianwerte angegeben. Denn der Median gewichtet Ausreißer nicht so stark. (Beispiel: Bei der Zahlenreihe 1, 1, 2, 6, 10 ist der Durchschnitt 4 – der Medianwert aber 2.) Für den Wert oberhalb von 90 Prozent lag der Durchschnitt bei -0,1; der Median bei 1,6 Prozent (gegenüber 2,9 Prozent, wenn die Schulden zwischen 60 und 90 Prozent liegen). Auf die 1,6 hatte sich Rogoff berufen, wenn er von „ungefähr einem Prozentpunkt“ weniger sprach. Die Kritiker aber griffen den Durchschnittswert an und kamen auf 2,2 statt -0,1 Prozent.

Der Streit um die angeblich ausgelassenen Daten ist ebenfalls recht vertrackt, weil es für manche Länder für einige Jahre, etwa für Neuseeland, keine offiziellen oder zumindest umstrittene Daten gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es in Neuseeland einen Boom - und eine scharfe Rezession gegeben. Es gab aber keine offizielle Statistik, sondern nur zwei Datenreihen, die den Boom in unterschiedliche Jahre legten.

Im Fall von Spanien hatte Rogoff die Zahlen von 1959 bis 1980 nicht berücksichtigt, weil er an ihnen zweifelte. Nur: Für den Streit war das unerheblich, weil die Schulden Spaniens in dem Zeitraum immer unter 30 Prozent lagen (außer 1960, da waren es 30,1 Prozent).

Reinhart und Rogoff reagierten sofort, unter anderem in einem Statement in der „New York Times“, in dem sie den Rechenfehler einräumten - die These aber im Grundsatz verteidigen. In weiteren Stellungnahmen verteidigten Sie sich vor allem gegen den Vorwurf, sie hätten Daten selektiv weggelassen oder gar manipuliert. Hier bekamen Sie auch Unterstützung von anderen Ökonomen, etwas von James Hamilton, von der University of California.

Offener Brief an Krugman

Streitbarer Ökonom: Nobelpreisträger Krugman
Rogoff-Kritiker Paul Krugman
© Getty Images

Einer der größten Kritiker war der Ökonom Paul Krugman. 2008 erhielt er den Nobelpreis, vor allem aber kennt man ihn aus seiner Kolumne in der „New York Times“. Darin wettert er seit Jahren vor allem gegen den Sparkurs in Europa und die Republikaner. Als im April die Kritik an Reinhart und Rogoff erschien, drehte er auf – oder durch, je nachdem, wie man es nimmt – und feuerte Dutzende Salven in der Zeitung und seinem Blog ab. Der längste Artikel, eine Generalabrechnung mit der Austeritäts-Fraktion (und Rogoff), erschien Anfang Juni in der „New York Review of Books“. „Die Reinhart-Rogoff-Studie hatte mehr Einfluss auf die öffentliche Debatte als jeder Artikel in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften zuvor“, schreibt er. Als Entgegnung schrieben Rogoff und Reinhart einen offenen Brief an Krugman.

Kenneth Rogoff verweist in der Debatte immer wieder auf das, was er danach geschrieben hat. Denn die Kritik bezog sich nur auf das Arbeitspapier von 2010, das, so Rogoff, längst durch eigene Forschungen und Beiträge überholt worden war. Auf dem Politik-Portal Voxeu etwa hatten die beiden schon im August 2010 die 90-Prozent-Schwelle erklärt und relativiert - und mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung verglichen.

Auch auf anderen Forschungspapiere von EZB und IWF zu Schulden und Wachstum bezieht er sich. Ein Aufsatz aus dem Jahr 2012 ist Rogoff besonders wichtig, er bezeichnet ihn als Hauptwerk zu dem Problem: „Public Debt Overhangs: Advanced-Economy Episodes Since 1800“. Darin untersuchte er mit Vincent und Carmen Reinhart 26 Schuldenkrisen in 22 Ländern bis ins Jahr 1800 – und hier benutzt er die kritisierten Zahlen gar nicht mehr. Er spricht in diesen Phasen, die seiner Definition nach länger als fünf Jahre dauern müssen, von 2,3 Prozent Durchschnittswachstum oberhalb von 90 Prozent Schulden – statt 3,5 Prozent. Also im Schnitt 1,2 Prozentpunkte weniger. Seine Kritiker waren in der anderen Datenreihe auf 2,2 Prozent gekommen. Aber welcher Streit wird schon mit Literaturliste geführt?

Unbequeme, mächtige Zahl

Das Thema beschäftigt Kenneth Rogoff noch, er hat auf seiner Homepage die aus seiner Sicht wichtigen Beiträge alle zusammengetragen - und erst Anfang Oktober nochmal 15 Fragen und Antworten online gestellt.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Ja, Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart ist ein Rechenfehler unterlaufen, und das war peinlich für sie. Die Heftigkeit der Attacken aber war nur ein Symptom, wie sehr Schulden und Wachstum zum Megathema unser Zeit geworden sind. Die 90 Prozent waren eine unbequeme, mächtige Zahl - sie war benutzt und instrumentalisiert worden. Irgendwann war sie auch Rogoff entglitten, der sie immer wieder erklärt hat.

Das Fatale ist, dass im Umkehrschluss nicht wenige Politiker und ihre Berater glaubten, dass man nun wieder entspannt hohe Defizite fahren könnte. „Das ist verrückt“, sagt Rogoff dazu.

Das Interview mit Rogoff, in dem er erstmals ausführlich über den Streit spricht, lesen Sie in der neuen Capital (ab 24. Oktober im Handel). Eine kurze Zusammenfassung finden Sie hier.

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