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Bernd Ziesemer Russland und China spalten die deutsche Industrie

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Geopolitischer Realismus oder weiter so wie bisher? Deutschlands Konzerne ringen um den Kurs gegenüber Putin und Xi Jinping

Der Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) bringt eine neue Tiefe in eine alte Debatte: Wie sollen sich die Unternehmen gegenüber den vielen Diktaturen in aller Welt verhalten, vor allem gegenüber Russland und China? Siegfried Russwurms Kernsätze in einem Interview mit dem „Manager Magazin“: Im Umgang mit Autokratien gebe es „keine Sicherheit“, Wladimir Putin habe den „Minimalkonsens der zivilisierten Welt aufgekündigt“, auch gegenüber Chinas Alleinherrscher Xi Jinping müsse die Wirtschaft „rote Linien“ ziehen und sich generell „nicht abhängig und erpressbar“ machen. Ganz anders in diesen Tagen dagegen der Chef des Volkswagen-Konzerns, Herbert Diess. Die Wirtschaft müsse weiter auf Handel durch Wandel setzen, China bleibe der „wichtigste Wachstumsmarkt“ seines Konzerns und für einen Rückzug aus der berüchtigten Zwangsarbeiter-Provinz Xinjiang bestehe kein Anlass.

In Wahrheit ist Diess ein gutes Beispiel für das, was Russwurm als Gefahr beschreibt: sich abhängig und erpressbar zu machen. Volkswagen kann das Werk in Xinjiang nicht schließen, ohne sein gesamtes Geschäft in China zu riskieren, das für fast die Hälfte des Konzernumsatzes sorgt. Aber Diess ist auch ein Beispiel für die alte Garde von Managern, die sich schlicht nicht um moralische Grundsätze schert. Deshalb vollzieht der VW-Chef noch nicht einmal in Russland einen klaren Schnitt so wie beispielsweise seine französischen Konkurrenten. Zwar stehen auch die VW-Bänder im Reich Putins gegenwärtig still, aber in Wolfsburg hofft man auf eine baldige Rückkehr zur Normalität.

Abnabelung ist politisch geboten und ökonomisch vernünftig

Noch vor wenigen Monaten hielt es die Mehrheit der deutschen Industrie mit der Diess-Linie. Doch seit dem Überfall auf die Ukraine dreht sich die Position in vielen Unternehmen – und das keineswegs nur gegenüber Russland, sondern auch im Verhältnis zur Volksrepublik China. Nicht alle äußern sich so klar wie Russwurm, viele lavieren. Der chinesische Markt ist zu wichtig, um einer schnellen Entkopplung das Wort zu reden. Das tut auch der BDI-Chef nicht. Aber man wird vorsichtiger und achtet darauf, sich nicht immer noch weiter abhängig zu machen. Neue Schlagwörter wie „Verkürzung der Lieferketten“ oder „Friend-Shoring“ machen die Runde in den Chefetagen. Ob daraus wirklich ein starker Trend wird, kann man noch nicht sagen. Aber die Wahrscheinlichkeit nimmt zu.

Kurzfristig kann diese Entwicklung zu einigen Wohlstandsverlusten führen. Billige Energie aus Russland und billige Waren aus China – das war in den letzten Jahren das Erfolgsrezept der deutschen Wirtschaft. Diese Zeit geht nun zu Ende. Langfristig aber ist die schrittweise Abnabelung von gefährlichen Diktaturen nicht nur moralisch und politisch geboten, sondern auch ökonomisch vernünftig. Jeder angehende Kaufmann lernt schon am Anfang seiner Karriere, dass man sich nicht von einem einzigen Lieferanten oder einem einzigen Kunden abhängig machen soll. Dass nahezu die gesamte deutsche Autoindustrie, nahezu die gesamte deutsche Energiewirtschaft und nahezu die gesamte deutsche Chemiebranche in den letzten 20 Jahren anders gehandelt haben, kann man nur als großes Versagen ihrer Vorstände und Aufsichtsräte bezeichnen. Wiederholen dürfte es sich nicht.

Bernd Ziesemer

ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.

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