Es klingt nach verkehrter Welt. Meist erntet der Internationale Währungsfonds (IWF) Feindseligkeit, weil er Kredite an notleidende Regierungen mit schmerzhaften Sparauflagen versieht. Nicht so in Kenia. Dort appellieren Bürger derzeit an den IWF, ihrer Regierung gar keinen Kredit zu geben. „Stop loaning Kenya“ heißt die Bewegung. Ein populärer Songwriter hat den Slogan sogar vertont. Eine Viertelmillion Kenianer unterstützen eine Online-Petition: Gebt der Regierung kein Geld, so die Botschaft, denn es landet nur in den falschen Taschen.
Es ist das erste Mal, dass sich eine afrikanische Regierung so einem Sturm gegenübersieht. Auch ein über Facebook gestreamter Auftritt von IWF-Chefin Kristalina Georgieva wurde vor wenigen Wochen mit Kommentaren im Chat geflutet, den geplanten 2,3-Milliarden-Dollar-Kredit zu überdenken. Auch hier der Tenor der Wortmeldungen: Die Finanzspritze sei schon gestohlen, bevor sie überhaupt im Land angekommen sei.
Anders als Sambia steht Kenia nicht vor dem Staatsbankrott. Der IWF hält sein Darlehen (noch) für tragfähig. Aber in der Bevölkerung rumort es. Kenia könnte unweigerlich in eine ähnliche Schuldenfalle driften, wenn Schulden mit Schulden bezahlt werden – und das, ohne dass die Menschen etwas davon haben. Das IWF-Darlehen soll zwar die Corona-Krise überbrücken helfen. Aber schon andere Gelder seien in weit verzweigten korrupten Kanälen versickert, so die Sorge. Kenia hat auch registriert, wie chinesisches Kapital Straßen und Zugtrassen baut, in Bildung und Gesundheit aber wenig investiert wird.
Überschuldungsrisiko steigt
Die chronische Korruption im Land hat Regierungschef Ohuru Kenyatta selbst mehrfach angeprangert – als ein Geschwür, das auf allen Ebenen Entwicklung behindert. Zuletzt schätzte er, sie koste das Land jeden Tag 18,5 Mio. Dollar. Viel getan hat er dagegen nicht. In einem jüngeren Skandal sollen Millionen verschwunden sein, die für Covid 19-Schutzausrüstung vorgesehen waren. Zugleich hat sich die Staatsverschuldung seit 2016 ungefähr vervierfacht. Die öffentliche Hand steht mit rund 70 Mrd. Dollar in der Kreide – oder 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Da Kenia im laufenden Jahr neben dem IWF-Kredit noch weitere neun Mrd. Dollar aufnehmen will, sieht auch der IWF insgesamt ein „hohes Risiko“ heraufziehen, dass die Last untragbar wird ( high risk of debt distress ). Kenia bewegt sich somit dahin, wo andere schon sind : Mehr als ein Dutzend afrikanischer Länder stufen IWF und Weltbank als Hochrisikoländer ein, fünf als quasi zahlungsunfähig. Seit 2010 hat sich der Kontinent wieder stärker verschuldet – nicht zuletzt für kreditfinanzierte chinesische Schnellstraßen, Brücken oder Häfen.
Der dramatische Wirtschaftseinbruch in der Pandemie – sinkende Rohstoffpreise, höhere Importkosten, fehlender Tourismus – führt nun zu der paradoxen Lage, dass IWF und Weltbank einerseits vor Überschuldung und Staatspleiten warnen, andererseits aber in die Presche springen und die Schuldenlast noch erhöhen. Für einige Länder werde ein Schuldenschnitt unvermeidbar sein, sagt Weltbank-Ökonomin Carmen Reinhart. Gläubiger sollten sich darauf einstellen, dass weder Umschuldungen noch Beistandskredite dies vermeiden könnten. Länder, die bereits am Abgrund stehen und verhandeln, sind Tschad, Sambia und Äthiopien. Andere wie Uganda können folgen.
Krisenmanager im Dilemma
Neben der Weltbank mit Zuschüssen hat der Krisenmanager IWF nun auf Hilferufe aus über hundert Regierungen reagiert und mehr als 100 Mrd. Dollar zinsvergünstigte Darlehen gebilligt – auch und gerade an einkommensschwache Länder, knapp 20 Mrd. Dollar davon an 36 Länder Afrikas (neben 68 Mrd. für Lateinamerika). In 160 Ländern hatte sich der Wirtschaftsausblick vor einem Jahr abrupt von positiv auf negativ gedreht. Für 29 Länder, die meisten in Afrika, wurde der Schuldendienst eingefroren.
Schon vor Covid-19 hatten mehr als 30 Staaten Afrikas aus ihren Budgets mehr für externen Schuldendienst ausgegeben als für die unterfinanzierte öffentliche Gesundheit – auch Kenia, wie die Entschuldungskampagne Jubilee mit Daten von IWF und Weltbank 2020 ausgerechnet hat. Nun fordern Gesundheitssysteme und soziale Netze die Staatsfinanzen krisenbedingt erst recht heraus.
Zu allem Unglück werden sich Entwicklungs- und Schwellenländer auch viel langsamer von der Rezession erholen als die Industrienationen: Frühestens 2023 könnten sie an alte Wachstumsraten anschließen, schätzt die IWF-Frühjahrsprognose und fügt hinzu: Ärmere Länder bräuchten über die nächsten fünf Jahre mindestens 450 Mrd. Dollar, um Long-Covid-Schäden in ihren Volkswirtschaften zu überwinden. Woher nehmen? Höhere Steuern und Hilfe von außen.
China und die G20
Hilfswerke der Kirchen, Entwicklungsorganisationen und der Vatikan fordern seit geraumer Zeit ein Ende der Schuldenfallen – in Form von umfassenden Erlassen. Nach Covid drohe überschuldeten Ländern nun ein verlorenes Jahrzehnt. Staatliche wie private Gläubiger lehnen dies genauso konsequent ab. Die traditionellen Gebernationen (im Pariser Club und multilateral) sehen sich nur als Teil des Problems – obwohl gerade Europa mit Afrika eine engere Partnerschaft anstrebt. Andere staatliche Gläubiger, vor allem China, und private Anleger zeigen sich mehr als zurückhaltend.

Dabei hat ihr Gewicht in der Gläubigerlandschaft dramatisch zugenommen. Ende 2018 wurde die externe Verschuldung des Kontinents auf 417 Mrd. Dollar geschätzt, jeweils zu rund einem Drittel bei multilateralen Organisationen, bilateralen Gläubigern (einschließlich 20 Prozent bei China) und privaten Investoren.
Laut der Jubilee-Kampagne müssten afrikanische Staaten allein im Jahr 2021 etwa 23,4 Mrd. Dollar Schuldendienst an Großbanken und Investmenthäuser wie HSBC, Blackrock, UBS oder JP Morgan leisten. Sie zitiert Vera Songwe, Leiterin der UN-Wirtschaftskommission für Afrika mit den Worten: "Unsere Regierungen können entweder ihre Verbindlichkeiten aus Anleihen begleichen oder Medikamente, Nahrung und Treibstoff für die Bevölkerung kaufen."
Moratorium und Rahmenwerk
Auf einem für viele unbefriedigenden Mittelweg hat die G20-Gruppe der Industrie- und Schwellenländer in einer Initiative zur Stundung von Schulden (DSSI) für die ärmsten Länder seit Mai 2020 immerhin 45 Entwicklungsländern für rund 13 Mrd. Dollar Aufschub gewährt. Der Pakt wurde gerade "letztmalig" bis Ende 2021 verlängert. Die G20-Länder halten rund 90 Prozent der externen Schulden der rund 70 einkommensschwachen Länder, die DSSI nutzen können. Chinas Anteil der bilateralen Schulden stieg bis Ende 2019 auf 63 Prozent.
Ebenfalls für die ärmsten Länder moderieren IWF und Weltbank seit November ein so genanntes Global Framework, ein Rahmenwerk, das Umschuldungen der G20-Staaten begleitet – und private Gläubiger zur Teilnahme ermuntert. Solange diese nicht für Schuldenerleichterungen in die Pflicht genommen werden, befürchten Kritiker jedoch, dass durch staatlichen Aufschub freiwerdende Mittel nur dem privaten Bail-Out hinterhergeworfen werden. Dem Kampf gegen das Virus und für die Wirtschaft nutze das wenig. Ob China und Großanleger sich Fall für Fall in das Rahmenwerk einbinden lassen, scheint ein zähes Unterfangen.
Kenia jedenfalls sieht sich als Mitteleinkommensland noch nicht veranlasst, eine Umschuldung zu suchen. Die dann unausweichliche Herabstufung der Bonität würde den Zugang zum Kapitalmarkt verbauen. Tschad, Sambia und Äthiopien haben diese Wahl nicht mehr. Aber heimische Ökonomen schlagen durchaus Alarm und fürchten, dass die Schuldenkrise sich zuspitzen könnte, wenn bereits die Hälfte der Staatseinnahmen in den Schuldendienst fließen. Jedes weitere IWF-Darlehen müsse produktive Wirtschaftszweige fördern, die Kenias Dollar-Einnahmen steigern.
Die IWF-Missionsleiterin Mary Goodman jedenfalls ging auf die Korruptionsängste ein. Sie sagte dem Sender BBC, die Mittel sollen nicht nur dabei helfen, die staatlichen Ausgaben in den Griff zu bekommen. Sie würden durch Kontrollen und strenge Auflagen vor allem das Beschaffungswesen transparenter machen – denn diese Maschinerie gilt als der größte Sumpf der Veruntreuung in dem ostafrikanischen Land.