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Kolumne Angst vor dem digitalen Drachen aus China

Benedikt Herles
Benedikt Herles
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Fasziniert beobachtet der Westen den Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Supermacht. Benedikt Herles fordert ein demokratisches Gegenmodell, um dem digitalen Drachen Paroli zu bieten

Chinesische Schriftzeichen in pink bildeten das Bühnenbild für die Parteitagsrede von Christian Lindner Ende April. „Wirtschaftspolitik“ lautete die Übersetzung. China ist sexy. Manager-Pilgerreisen ins Reich der Mitte haben den stereotypen Silicon-Valley-Erleuchtungs-Trip abgelöst. Wöchentlich lese ich im Linkedin-Feed von Eindrücken und Botschaften meines Netzwerks aus dem Fernen Osten. Besonders beliebt: Handyvideos aus dem ach so bequemen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Schanghai und Peking, inklusive hämischer Kommentare zur Langsamkeit und Pünktlichkeit der Deutschen Bahn.

Der Sachbuchmarkt bietet derweil jede Menge neue Lektüre zum Studium der Supermacht – von „Die Chinesen“ bis hin zu „Zukunft? China!“. Keine Frage, das deutsche Bürgertum hat eine erstaunliche Faszination für Herrn Xis Riesenreich entwickelt – angesiedelt irgendwo zwischen panischer Angst und sprachloser Bewunderung.

Zu Ende gedacht...

Benedikt Herles Buch "Zukunftsblick" ist im Droemer Verlag erschienen
Benedikt Herles Buch "Zukunftsblind" ist im Droemer Verlag erschienen

Die Faktenlage ist erdrückend. China deckt unsere Schwächen schonungslos auf. Im September eröffnet der neue Großflughafen in Peking. Spatenstich 2014, Platz für 100 Millionen Passagiere . Der schmerzhafte BER-Vergleich: Baubeginn 2006, Kapazität etwas mehr als 40 Millionen. Eröffnung: Irgendwann. Vielleicht. Oder auch nicht.

3 Mrd. Euro will die Bundesregierung für die Entwicklung künstlicher Intelligenzen bereitstellen. Alleine die Stadt Tianjin möchte über 13 Mrd. Euro in ihren regionalen KI-Fonds stecken.

Unsere Digitalministerin Dorothee Bär macht mit einem Latexkleid zum deutschen Computerspielpreis Schlagzeilen, während in Hangzhou mal eben für über 2 Mrd. Euro eine eigene E-Sports-City entsteht.

Etwas mehr als 10 Mrd. Euro beträgt das Jahresbudget des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Mit diesem Geld finanziert Minister Gerd Müller seinen Marschallplan mit Afrika. Xi Jinping verkündete erst im September, dass er weitere 60 Milliarden für Afrika bereitstellen möchte. Seit Jahren dominieren chinesische Investoren die Märkte südlich der Sahara. Sie bauen kritische Infrastruktur während wir noch Brunnen bohren.

2018 entstanden in China 37 neue Unicorns . Darunter versteht man private, risikokapitalfinanzierte Unternehmen mit einer Bewertung von über 1 Mrd. Dollar. Deutschland verzeichnet in der gleichen Studie sechs Unicorns – wohlgemerkt insgesamt. Fünf chinesische Gründungen wurden sogar mit mehr als 10 Mrd. Dollar bewertet und zählen damit zu einer noch selteneren Art mystischer Fabelwesen, genannt „Decacorns“. Sie kommen hierzulande gar nicht vor.

Von den 20 wertvollsten Technologie-Firmen weltweit stammen neun aus der Volksrepublik und keine aus Europa. Egal ob E-Commerce, Mobile Payment oder Carsharing: China hat in allen Märkten eigene Anbieter hervorgebracht.

Und dann ist da noch die Biotechnologie. Das Reich der Mitte wird zum Reich der Gene. Im November kamen die beiden ersten mithilfe der Genschere CRISPR/Cas9 modifizierten Babys auf die Welt. Der internationale Aufschrei war groß. Auch wenn die chinesische Regierung die Arbeit des Wissenschaftlers He Jiankui als illegal erklärte , erstaunt der Tabubruch wenig. Schon im Sommer 2017 waren weltweit 20 klinische CRISPR-Studien mit menschlichen Zellen geplant oder bereits am Laufen, die meisten davon in China . Längst ist zwischen Peking und Shenzhen eine wahre Genindustrie entstanden. Wohl nirgendwo sonst begegnet man der genetischen Optimierung des Homo sapiens mit solcher Offenheit.

Was ist unsere Reaktion? Die Bundesregierung hat einen Afrika- und einen USA-Beauftragten. Von einem China-Beauftragten liest man nichts. Die FDP hat natürlich recht, wenn sie fordert, Wirtschaftspolitik zu machen, bevor dies andere tun. Das Land braucht eine Antwort auf die aktive Industriepolitik des digitalen Drachen. Aber das alleine wird nicht reichen. China macht sich daran, mit einem ganzen Blumenstrauß revolutionärer Technologien seine Diktatur neu zu erfinden. Es liegt an uns, ein abendländisch-demokratisches Gegenmodell zu finden. Wir müssen die liberale westliche Industriegesellschaft samt Sozialstaat neu denken und in ein radikal anderes technologisches Zeitalter transformieren. Dafür braucht es vor allem einen Plan und ein echtes politisches Zukunftsnarrativ. Das aber fehlt weiter. Da helfen auch keine Schriftzeichen auf Bundesparteitagen. Action required!

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