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Kolumne 7 Lehren aus dem Brexit-Drama

Seit Monaten ringt das Unterhaus um eine Lösung für das Brexit-Drama, bisher ohne Ergebnis
Seit Monaten ringt das Unterhaus um eine Lösung für das Brexit-Drama, bisher ohne Ergebnis
© dpa
Der Ausgang der verlängerten Brexit-Saga ist immer noch ungewiss. Holger Schmieding zieht trotzdem schon jetzt einige Lehren aus der für alle Seiten schmerzlichen Erfahrung

Wenn in Westminster nicht noch ein kleines Wunder geschieht, wird die britische Premierministerin Theresa May am Mittwoch erneut darum bitten müssen, den ursprünglich von ihr selbst gesetzten Termin für den britischen Austritt aus der Europäischen Union zu verschieben, ohne der EU bereits eine in London mehrheitsfähige Lösung aufzeigen zu können. Und vermutlich wird die zunehmend entnervte EU ihr nochmals mehr Zeit gewähren, um den Briten einen noch größeren politischen und wirtschaftlichen Schaden zu ersparen und sich selbst vor dem möglichen Trümmerflug zu schützen.

Wie das Brexit-Debakel endet , bleibt offen. Bisher wissen wir nur zweierlei: Erstens lehnt das britische Parlament den harten Ausstieg ohne Anschlussabkommen mit großer Mehrheit ab. Zweitens findet Frau May keine Mehrheit für ihren Vorschlag eines reinen Freihandelsabkommens, bei dem möglicherweise Nordirland aber nicht der Rest des Königreiches weiterhin die Produktstandards der EU beibehalten müsste, um Grenzkontrollen auf der irischen Insel zu vermeiden. Stattdessen läuft die Diskussion eher auf die von uns seit Monaten bevorzugte Idee einer dauerhaften Zollunion hinaus. Bei einem solchen halben Brexit verbliebe das in der Mitte tief gespaltene Land im Binnenmarkt und der Zollunion für Güter, könnte aber für Dienstleistungen und die Zuwanderung eigene Regeln setzen.

Unabhängig vom genauen Ausgang der verlängerten Brexit-Saga lassen sich schon jetzt einige Lehren aus der für alle Seiten schmerzlichen Erfahrung ziehen.

#1 Scheiden tut weh

Die EU ist ein über 60 Jahre gewachsener Club. Menschen und Unternehmen haben sich weit mehr an die Vorteile und Regeln des gemeinsamen Europa gewöhnt, als ihnen bewusst ist. Verärgert über eine als herzlos empfundene Sozialpolitik der konservativen Regierung in London und aus Angst vor weiteren Zuwanderern hatten beispielsweise viele Industriearbeiter in Nordengland 2016 für den Brexit gestimmt. Dabei war ihnen offenbar nicht ganz klar, dass es ohne den gemeinsamen Markt viele ihrer Arbeitsplätze vermutlich gar nicht gäbe. Und ohne die Mindeststandards der EU wäre ihre soziale Lage wohl prekärer, als sie es heute ist. Da der Verbund der EU so vielschichtig ist, fällt es entsprechend schwer, sich aus ihm zu lösen. London muss dies jetzt unter Schmerzen lernen. Das politische Drama an der Themse dürfte EU-Skeptikern in anderen Ländern vorerst die Lust am eigenen Austritt aus der EU nehmen.

#2 Der Stärkere setzt sich durch

Viele Briten hatten es sich so einfach vorgestellt: Brüssel und London würden nach dem Brexit-Beschluss einen Kompromiss schließen, der etwa in der Mitte der jeweiligen Vorstellungen liegen würde. Dabei könnten die gewitzten Briten den schwerfälligen Brüsseler Bürokraten und den in sich zerstrittenen EU-Mitgliedern vielleicht noch das eine oder andere unterschieben, was zum britischen Vorteil gereichen würde. Stattdessen ist es gekommen, wie es kommen musste. Das kleinere Britannien ist viermal mehr auf den Zugang zum großen EU-Markt angewiesen als umgekehrt. So liegt das Ergebnis, der fertige Austrittsvertrag, nahe an der von Anfang an klar gesetzten Verhandlungsposition der EU. Diese Erfahrung der eigenen Ohnmacht gegenüber dem weit größeren Partner zu verdauen, fällt vielen Londoner EU-Skeptikern naturgemäß sehr schwer.

#3 Vereint kann die EU viel erreichen

Die Europäische Union ist eine wirtschaftliche Supermacht, in Fragen des internationalen Handels gleichauf mit den USA. Wenn sie sich nicht auseinander dividieren lässt, kann sie Wirtschaftsfragen in ihrem Sinne gestalten. So wie sie sich bei den Bedingungen für den Brexit weitgehend durchgesetzt hat, kann sie auch im Handelsstreit mit den USA, im Umgang mit China sowie beim Zähmen der großen Datenkraken aus den USA viel erreichen, sofern die Mitglieder der EU ihr wirtschaftliches Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen.

#4 Lügen haben manchmal lange Beine

Als Insel mit stolzer Vergangenheit, die seit fast 1000 Jahren nicht mehr von fremden Truppen besetzt wurde, haben die Briten andere historische Erfahrungen als andere Europäer. Daraus folgt ein etwas distanziertes Verhältnis zum Kontinent . Das ist für sich genommen kein Problem. Aber mangelndes Wissen über die EU hat es den oftmals ideologisch motivierten Scharfmachern in Großbritannien leicht gemacht, dem heimischen Publikum Lügen über Europa aufzutischen.

Bereits in seiner Zeit als Zeitungskorrespondent in Brüssel hatte beispielsweise der Ober-Brexiteer Boris Johnson den Ruf, mehr an der auflagenträchtigen Story als an deren Wahrheitsgehalt interessiert zu sein. Ein großer Teil der Kampagne für den Brexit beruhte auf Behauptungen mit nur bescheidenem Bezug zur Wahrheit. Die EU muss daraus wohl die Lehre ziehen, künftig systematischen Fehlinformationen frühzeitig, regelmäßig und mit Nachdruck entgegenzutreten. Vornehme Zurückhaltung bringt wenig. Der neue Ton gegenüber Ungarns Viktor Orban lässt hoffen, dass die EU dies ansatzweise gelernt hat.

#5 Wer Wind sät, kann Sturm ernten

Für lange Zeit war ein Brexit kein Thema für die meisten Briten. Auch wenn man die EU nicht ganz verstand, hatte man sich ganz gut mit ihr arrangiert. Ein möglicher Austritt war nichts als das Steckenpferd des nationalen und radikallibertären Lagers innerhalb der Konservativen Partei. Um die Radikalen im eigenen Lager zu besänftigen, hatte Premier David Cameron 2009 ohne jegliche Not seine Konservative Partei aus dem Verbund mit anderen europäischen Mitte-Rechts Parteien wie der CDU/CSU herausgeführt. Zu allem Überdruss hat er dann für 2016 ein unnötiges und nur von einer lautstarken Minderheit gefordertes Referendum angesetzt. Der Rest ist Geschichte. Es bleibt die bittere Pointe, dass das Nachgeben gegenüber den Radikalen die Konservative Partei alles andere als geeint hat. Im Brexit Chaos, das sie selbst angerichtet haben, stehen die Tories heute vor der größten Zerreißprobe ihrer Geschichte.

#6 Welche Regeln sollen für Volksabstimmungen gelten?

Den eigentlichen Souverän, das Volk, entscheiden zu lassen, kann auch in einer repräsentativen Demokratie Sinn machen. Aber solche Abstimmungen sollten Regeln gehorchen. Eine dieser Regeln sollte sein, dass in einer repräsentativen Demokratie die echten Schicksalsfragen der Nation nicht nach Lust und Laune von einer einfachen Mehrheit neu entschieden werden sollten. Zu Recht sieht das deutsche Grundgesetz vor, dass in unserem parlamentarischen Verfahren unsere Verfassung, anders als einfache Gesetze, nicht durch einfache Mehrheit geändert werden kann. Der Wunsch, die aktuellen Verhältnisse über den Haufen zu werfen, sollte schon ausgeprägt genug sein. Entsprechend sollte für ein Referendum über eine grundlegende Neuerung wie den Austritt aus der EU eine Mehrheit von mindestens 60 Prozent erforderlich sein. Allerdings könnte dieses Argument dann auch für einen Beitritt zur EU angewandt werden.

#7 Geschichte lässt sich schwer zurückdrehen

Für die EU wäre es sicherlich sehr befriedigend, wenn die Briten sich noch rechtzeitig eines Besseren besinnen und ihren Brexit-Antrag zurückziehen würden, vielleicht nach einem neuen Referendum. Aber ob dies für die EU wirklich gut wäre, ist eine andere Frage. Leider lässt sich das Drama der letzten drei Jahre nicht ungeschehen machen. Die britische Gesellschaft ist tief gespalten. Eine knappe Entscheidung für einen Verbleib, vielleicht mit 53 Prozent zu 47 Prozent in einem neuen Referendum, würde nicht ausreichen, die britische Diskussion zu beenden und das Land zu befrieden.

Die EU hätte es mit einem großen Mitglied zu tun, das vor allem mit sich selbst beschäftigt wäre. Vermutlich würde es entweder eine konservative Regierung haben, die weiterhin mehrheitlich die EU ablehnt, oder eine Labour-geführte Koalition unter einem Premierminister Jeremy Corbyn, dessen linke Ideen der EU einige Kopfschmerzen bereiten könnten. Für eine gedeihliche Zusammenarbeit innerhalb der EU oder sogar echte Reformen wäre beides nicht förderlich.

Auch auf Seiten der EU hat das Vertrauen in Großbritannien gelitten. So traurig es ist: Vermutlich wäre es für beide Seiten heute besser, ihr Verhältnis neu auszurichten. Ein halber Brexit, bei dem Großbritannien zumindest im Binnenmarkt und der Zollunion für Güter verbleibt, aber den von London nie richtig verstandenen politischen Bund EU verlässt, wäre mittlerweile wohl die am wenigsten konfliktgeladene Lösung.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.

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