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Kommentar Es ist an der Zeit, den Briten zu danken

"Brexit. Ist es das wert?": Gegner des EU-Austritts hoffen auf ein zweites Referendum
"Brexit. Ist es das wert?": Gegner des EU-Austritts hoffen auf ein zweites Referendum
© dpa
Schadet der Brexit-Prozess der Europäischen Union? Nein, er führt den Europäern die Vorzüge der europäischen Integration vor Augen. Nils Kreimeier sagt Danke

Es ist an der Zeit, den Briten zu danken.

Wirklich.

Natürlich scheint es derzeit angemessen, den Niedergang Großbritanniens zu besingen, sich über die Unfähigkeit zu amüsieren, auch nur irgendeine Art von Beschluss durchs Parlament zu bringen und über die Dreistigkeit zu ärgern, mit der Brexit-Konservative der EU damit drohen, ihre Prozesse lahmzulegen.

In Wahrheit aber kann die EU diesem großen, alten und sehr demokratischen Volk nur dankbar sein. Denn was genau ist seit dem Referendum im Juni 2016 geschehen, in dem eine knappe Mehrheit der Teilnehmer sich für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union aussprach? In einem oft quälenden Prozess haben die britische Regierung und dann das Unterhaus versucht, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen. Nur um festzustellen – und das ist ja der eigentliche Grund für die lange Verzögerung – dass es schlicht keine Variante des Brexits gibt, in deren Folge das Land anschließend besser da stehen wird. Zu verflochten sind die Volkswirtschaften, zu hilfreich viele der oft gescholtenen Regeln und Abkommen, zu sinnvoll ist einfach die generelle Offenheit der Grenzen (eine Erkenntnis, die übrigens einst vor allem die Briten den anderen Europäern nahegebracht hatten).

Wenn die EU es auf eine fast dreijährige Werbeshow in eigener Sache angelegt hätte, sie hätte sich nichts Besseres ausdenken können. Und die Show zeigte Wirkung: Ende März gingen mehr als eine Million Menschen in London für Europa auf die Straße , sie trugen blau-gelbe Fahnen und hatten die Gesichter in den Farben der Gemeinschaft geschminkt. Es dürfte die größte Kundgebung gewesen sein, die jemals für die europäische Sache stattgefunden hat. Im britischen Parlament beschäftigten sich die Abgeordneten ausführlich mit den Feinheiten von Zollunion, Binnenmarkt und Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und manche entdeckten erstmals deren Vorzüge. Live vor den Fernsehkameras, die diesen Lernprozess weltweit übertrugen.

Im Zweifel alle für einen

Der Brexit eint zudem die Europäer, er hat Polen, Deutsche, Italiener, ja sogar Ungarn in einer Frage zusammengebracht. Natürlich gibt es die üblichen Differenzen im Detail, aber im Grundsatz herrscht erstaunlich viel Übereinstimmung: Es war klar, dass man sich von dem britischen Ausstieg nicht entzweien lassen wollte. Die EU bewies Stärke, eine Stärke, die sogar dem amerikanischen Chef-Troll Donald Trump auffiel, der per Twitter verkündete , die EU sei „hart“ in Sachen Großbritannien und Brexit. Auch zeigte sich am Beispiel der Irland-Frage, dass das Grundprinzip Europas – im Zweifel alle für einen – eine ungeheure Kraft haben kann, weil es das politische Kalkül der Gegenseite zuverlässig ins Wanken bringt.

Das alles bedeutet nicht, dass der Brexit nicht stattfinden wird, auch wenn nach der neuesten Verschiebung auf Halloween 2019 die Hoffnung aufkeimt, der Spuk könne vielleicht vorübergehen. Die Lage in Großbritannien ist zu verfahren, einen einfachen Ausweg gibt es nicht. Weder ein weiteres Referendum noch ein abrupter Rückzug vom Ausstieg würden die Insel befrieden oder die verfeindeten Lager einander näherbringen. Am wahrscheinlichsten scheint derzeit eher, dass sich der Prozess noch lange, lange hinziehen wird – vielleicht auch über Ende Oktober hinaus.

Die EU aber sollte den Briten alle Zeit der Welt geben. Aus Verpflichtung diesem großen Land gegenüber, das mehr als einmal zur Stelle gewesen ist, wenn es eng wurde auf dem Kontinent. Aus Respekt dafür, dass es verdammt schwer ist, aus dem Ergebnis dieser Volksabstimmung etwas zu machen, mit dem alle mehr oder weniger leben können. Und auch aus Dankbarkeit dafür, dass die Briten allen klargemacht haben, warum es Europa eigentlich gibt.

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