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Brexit-Interview „Das Vereinigte Königreich bietet den Briten genau das, was sie brauchen“

Der Brexit spaltet die Gemüter innerhalb der britischen Bevölkerung.
Der Brexit spaltet die Gemüter innerhalb der britischen Bevölkerung.
© Pixabay
Das Brexit-Chaos geht weiter. Der irische Historiker Brendan Simms erklärt im Interview, was das Vereinigte Königreich von Europa unterscheidet und warum er selbst mittlerweile für den Austritt stimmen würde
Brendan Simms

Brendan Simms ist ein irischer Historiker und Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, am 25. März erscheint sein neues Werk „Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation“.

CAPITAL: Herr Simms, zeitlich passend zu den aktuellen Brexit-Verhandlungen erscheint ihr neues Buch „Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation“. Was sind ihre zentralen Thesen darin?

BRENDAN SIMMS: Das Buch behandelt im Grunde zwei Themen. Zum einen geht es darum, wie das Vereinigte Königreich durch seine Verwicklung in das europäische System als Staat geformt wurde. So war die Schaffung des Vereinigten Königreichs im Jahr 1707 eine Antwort auf den Druck von Außen, der die einzelnen Nationen auf den britischen Inseln hat näher zusammenrücken lassen. Zum anderen – und dieses Thema ist noch viel wichtiger – geht es darum, dass das Vereinigte Königreich schon immer eine Ordnungsmacht in Europa war und die europäische Geschichte sehr viel mehr geprägt hat als es selbst von Europa geprägt wurde.

Was sind denn die Höhepunkte der jahrhundertelangen britisch-europäischen Koexistenz?

Diese Frage kann natürlich nur subjektiv beantwortet werden. Ein offensichtlicher Höhepunkt war das Einschreiten des Vereinigten Königreiches in den Zweiten Weltkrieg: Das hat maßgeblich dazu beigetragen, den Sieg Hitlers zu verhindern und seine Niederlage zu manifestieren. Einen weiteren Höhepunkt stellt die napoleonische Revolution dar, als das Vereinigte Königreich ebenfalls dazu beigetragen hat, das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Dieses Muster – dass England oder das Vereinigte Königreich eine entscheidende Rolle in der europäischen Geschichte gespielt haben – lässt sich über mehrere hundert Jahre beobachten.

Ist der Brexit nun ein historischer Tiefpunkt?

Ich denke, es ist zu früh, um das zu sagen. Wir wissen noch nicht, wo der Brexit hinführt. Manche glauben er sei ein neuer Höhepunkt und der Beginn einer neuen Ära und manche bewerten ihn als Verschlechterung und Abgleiten des Vereinigten Königreichs in die Bedeutungslosigkeit.

"Der Brexit ist ein Moment der extremen Krise"
Brendan Simms

Glauben Sie, dass der Brexit tatsächlich das Ende der britisch-europäischen Partnerschaft markieren könnte?

Der Brexit ist auf jeden Fall ein Moment der extremen Krise zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa. Das führt für mich zu zwei Fragen. Erstens: Wird die politische Gestaltungsmacht des Vereinigten Königreichs ab jetzt oder nach der Übergangsphase vom Vereinigten Königreich bestimmt oder von der Europäischen Union? Das ist immer noch unklar. Wenn wir annehmen, dass das Vereinigte Königreich diese politische Gestaltungsmacht selbst bestimmt, dann wäre die nächste Frage, wie das Vereinigte Königreich seine Ordnungsmacht innerhalb der Europäischen Union nach dem Brexit wahrnehmen wird.

Was wären denn die Optionen?

Wenn es nach der EU ginge, würde das Vereinigte Königreich keine politische Rolle mehr im Rest Europas spielen. Das war historisch gesehen noch nie der Fall. Das bedeutet nicht, dass das nicht auch eintreten kann, denn natürlich verändern sich Dinge. Aber historisch gesehen hatte das Vereinigte Königreich immer diese politische Rolle. Und es hat diese Rolle auch in den vergangenen 40 Jahren in der Europäischen Union gespielt. Die Frage ist also, was passiert, wenn das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlässt: Wird es einfach unbedeutend und unbeteiligt oder wird ihm durch Verhandlungen eine neue Rolle in der Europäischen Union zugestanden oder fordert es diese sogar von Europa ein?

Als Kontinental-Europäer hat man manchmal den Eindruck, wir fühlen uns den Briten mehr verbunden als andersherum. Warum ist das so?

Ich glaube für dieses Phänomen gibt es historische Gründe. In Europa gibt es über die Jahrhunderte immer mehr Staatsbildungen und historische Erfahrungen, wobei sich das von Osten nach Westen verbessert und vice versa verschlechtert. Im großen Ganzen ist die Geschichte Europas geprägt von Katastrophen und Traumata, Staatsversagen und Fremdbestimmung. Die Bildung der Europäischen Union war die Antwort hierauf. Im Vereinigte Königreich gab es zwar ähnliche Herausforderungen, aber andere Antworten. Nämlich, dass das Vereinigte Königreich genau das System darstellt, das die Grundlage für die Gegenwart, die Zukunft und die Sicherheit ist.

"Die Briten sehen nicht unbedingt den Bedarf für eine weitere multinationale Union"
Brendan Simms

Was bedeutet das genau?

Das bedeutet, dass die Europäer Europa tatsächlich brauchen und denken, dass die Briten das ebenso tun. Viele Briten finden aber, dass Ihnen das Vereinigte Königreich genau das bietet, was sie brauchen. Ich glaube, das ist für die Europäer auf dem Festland schwer zu verstehen, immerhin gestehen sie dem Vereinigten Königreich damit eine außergewöhnliche Rolle zu. Und zwar nicht in dem Sinne, dass alles einzigartig und außergewöhnlich ist. Sondern, in dem Sinne, zu akzeptieren, dass die nationale Geschichte grundlegend anders ist.

Das müssen Sie etwas genauer erklären.

Ich würde argumentieren, dass es bei der ganzen Brexit-Debatte überhaupt nicht um den Nationalismus des Vereinigten Königreichs versus den Supranationalismus der Europäischen Union geht. Denn bedenken Sie: Das Vereinigte Königreich ist ein Zusammenschluss von vier Staaten. Es gibt also seit 1707 eigentlich keinen englischen Nationalstaat in diesem Sinne mehr. Obwohl es also oberflächlich so erscheint, als würde aktuell die multinationale Europäische Union den britischen Nationalstaat bekämpfen, bekämpft sie eigentlich einen Zusammenschluss von Nationen. Deshalb sehen die Briten nicht unbedingt den Bedarf für eine weitere multinationale Union – sie haben nämlich schon eine.

Glauben Sie, dass der Brexit tatsächlich die Probleme lösen wird, für die das Vereinigte Königreich die Europäische Union verantwortlich macht?

Das hängt davon ab, was man als Problem definiert. Für den Brexit gab es ja einen konkreten Deal-Breaker, nämlich die Frage nach der Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU. Hierfür wird der Brexit dem Vereinigten Königreich auf jeden Fall die Mittel geben, dagegen vorzugehen. Ob das Vereinigte Königreich diese Instrumente dann tatsächlich nutzen wird, ist eine andere Frage. Zudem ist es richtig, dass die britische Regierung hinsichtlich der Immigration von außerhalb der EU keinen guten Job gemacht hat. Trotzdem wird der Brexit der Regierung zumindest die Fähigkeit geben, mit etwas umzugehen, was ein großes Anliegen der Bevölkerung war.

Wie sieht es mit den wirtschaftlichen Vorteilen einer EU-Mitgliedschaft aus? Hat das für die Wähler bei dem Brexit-Referendum keine Rolle gespielt?

Ich glaube auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Einerseits haben viele einfach nicht geglaubt, dass das mit den wirtschaftlichen Vorteilen wahr ist. Sie dachten, das Vereinigte Königreich werde außerhalb der EU eine bessere Zukunft haben und dass es dann endlich in der Lage wäre, eigene Handelsverträge abzuschließen. Andere haben dagegen akzeptiert, dass der Austritt auf Kosten wirtschaftlicher Vorteile geschehen würde - aber haben gesagt, das sei der Preis, den man kurzfristig zahlen muss, um die Souveränität wieder herzustellen.

Sie nehmen die wirtschaftlichen Nachteile also bewusst in Kauf?

Natürlich ist das ein Argument, das auch auf andere europäische Länder zutrifft. Nicht zuletzt hat mein Heimatland Irland erst einmal stark gelitten, nachdem es das Vereinigte Königreich verlassen hat. Diese Idee, dass man ökonomische Vorteile aufgeben muss, um politische Ziele zu erreichen, ist stark verbreitet. Zudem denken die Briten auch nicht, dass ihr wirtschaftlicher Wohlstand ein Geschenk der EU sei. Ich glaube, es war ein Fehler der Remain-Vertreter, das zu suggerieren. Denn das gilt für das Vereinigte Königreich eher nicht. Historisch gesehen hat das Vereinigte Königreich eher zur Stabilität und zum Wohlstand der Europäischen Union beigetragen. Das Vereinigte Königreich ist ein Geber, kein Nehmer. Ich glaube, das erklärt den Optimismus eines Großteils der britischen Gesellschaft.

"Das Vereinigte Königreich ist ein Geber, kein Nehmer"
Brendan Simms

Trotzdem ist das britische Volk über den Brexit gespalten. Warum?

Ich glaube, das ist ganz normal. Ich stelle oft eine Analogie zur Reformation her. Denn auch jetzt hat man diese fundamentale Spaltung zwischen Elementen der Gesellschaft und das Thema ist immer noch offen. Es ist nicht unmöglich, dass es ein zweites Referendum geben könnte und das Vereinigte Königreich bleibt. Man muss den Brexit nicht als ein Event, sondern als einen Prozess denken. In 20 bis 30 Jahren Jahren wird das Remain-Lager vorne liegen. Dann wird die jüngere Generation in machtvollen Positionen und höchstwahrscheinlich für remain sein. Man kann also erst dann sagen, dass der Brexit wirklich erfolgreich war, wenn während diese Generation die Mehrheit innehat, der Brexit zur vorherrschenden Meinung geworden ist. Genauso wie man sagen könnte, dass die Reformation in England erst 90 Jahre nach Henry IV erfolgreich war.

Das heißt?

Die Existenz dieser Spaltung innerhalb der Bevölkerung ist überhaupt nicht überraschend und reflektiert natürlich, dass die Menschen im Vereinigten Königreich für ihr Land eine bestimmte Rolle und bestimmte Rechte innerhalb Europas erwarten. Manche denken, dass Vereinigte Königreich hat diese aufgrund der Europäischen Union, andere denken, dass es diese Rolle und Rechte aufgrund der Historie hat. Diese Ansicht ist schwer mit der Ansicht der Europäischen Union zu vereinbaren, die aktuell aber der größte Ordnungsfaktor ist. Es ist also wirklich ein Zusammenstoß von Ordnungssystemen und es ist nicht wirklich klar, wer ihn gewinnen wird.

Glauben Sie der Brexit ist eine Chance für Europa, sich neu zu erfinden?

Das hätte er sein können. Ich hatte sogar große Hoffnung, das er das tun würde. Allerdings bin ich mittlerweile sehr skeptisch. Viele Menschen sagen, wenn das Vereinigte Königreich erst einmal aus der EU raus ist, werden die Europäer ohne Hindernisse vorankommen können. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass das Vereinigte Königreich ein Hindernis war. Das Problem ist aber nicht das Vereinigte Königreich, sondern Europa und es wird nicht so sein, dass sich Europa nach dem britischen Austritt neu vereinen wird. Das haben wir bisher gesehen. So hat Macron beispielsweise eine starken und klaren Plan vorgelegt und von den größten europäischen Wirtschaftsnationen hat er kaum eine Antwort darauf erhalten, von Annegret Kramp-Karrenbauer aus Deutschland sogar Zurückweisung. Ich glaube, das Problem Europas liegt so tief, dass der Brexit nicht der Anstoß einer Transformation sein wird.

"Wenn es ein neues Referendum gäbe, würde ich mit leave stimmen"
Brendan Simms

Wie stehen Sie persönlich zum Brexit – remain oder leave?

Als irischer Staatsbürger hätte ich in dem Referendum abstimmen können, habe es aber nicht getan. Wenn ich abgestimmt hätte, dann für remain, weil ich fand, dass wie das abgelaufen ist, weder den Brexiteers noch den Remainers geholfen hat. Mein Argument war immer, dass die Europäische Union ein einzelner Staat werden muss, wie die USA oder das Vereinigte Königreich. Und wäre das passiert – und das sollte passieren, um die gemeinsame Währung und den Schengen-Raum aufrechtzuerhalten – wäre der Brexit ein Teil dieses Prozesses gewesen. In diesem Szenario sollten die politische Vereinigung der Europäischen Union und der Brexit Hand in Hand gehen.

Und wie stehen Sie jetzt zum Brexit?

Ich glaube, wenn es jetzt ein neues Referendum geben würde, würde ich mit leave stimmen. Ich glaube die Kluft zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich ist mittlerweile zu groß. Würde Großbritannien jetzt in die EU zurückkehren, wäre die Beziehung total anders. Das Vereinigte Königreich hätte sein ganzes Standing verloren und das würde all die falschen Tendenzen in der EU befeuern. Denn es gab wirklich Momente, in denen die Menschen in Europa nach dem Brexit aufgewacht sind und darüber nachgedacht haben, Dinge anders zu machen. Für manche bedeutete das zurück zum Nationalstaat, für andere eine politische Vereinigung. Was wir aktuell sehen, ist das komplette Gegenteil. Die EU will beweisen, dass sie Recht hat. Dass der Brexit ein Fehler ist und dass jeder, der die EU verlässt, bestraft wird. Und ich glaube, dass sie erst jetzt wirklich aufwacht und merkt, dass trotzdem überhaupt nicht alles in Ordnung gebracht ist und sie ein großes Problem hat.

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