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Brexit Streit um Nordirland: „Die Briten haben viel mehr zu verlieren“

Ein Schild an einem Laternenpfahl vor dem Hafen von Larne mit der Aufschrift "No Irish Sea Border"
Unionisten fordern die Abschaffung der Grenzkontrollen in nordirischen Häfen
© Liam McBurney / picture alliance/empics
Großbritannien und die EU streiten aktuell über die Kontrollen an der nordirischen Grenze. Gleichzeitig ist die Mehrheit der britischen Bevölkerung für einen Wiederbeitritt zur EU. Experte Rolf J. Langhammer sortiert die Lage 

Rolf J. Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel ist Experte für internationalen Handel und Effekte der Europäischen Integration auf Drittstaaten. Er war u.a. als Berater für die EU, die Weltbank und das Bundeswirtschaftsministerium tätig. 

Herr Langhammer, über das Nordirland-Protokoll wird seit Monaten gestritten. Es geht um die Frage nach EU-Grenzkontrollen im Warenverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland. Jetzt ist ein Ergebnis wieder verzögert. Was macht die Einigung so schwierig?
Das liegt vor allem an der strikten Haltung der pro-britischen Unionisten in Nordirland, die eine schleichende Abspaltung vom Vereinigten Königreich befürchten. Nordirland gehört immer noch zum Zollgebiet der EU, weil es an der Grenze zur Republik Irland keine Kontrollen gibt. Die EU besteht deswegen auf stichpunktartigen Kontrollen des Handels an den nordirischen Häfen, weil ihre gesundheitlichen und pflanzengesundheitlichen Standards wesentlich höher sind als die der Briten. Da geht es vor allem um verderbliche Waren und Agrarprodukte, die Krankheitserreger nach Irland einschleppen könnten. Dass die EU dadurch noch Einfluss innerhalb des Vereinigten Königreichs hat, gefällt den Hardlinern überhaupt nicht.

Die Unionisten von der pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP) verhindern seit letztem Jahr sogar eine Regierungsbildung in Nordirland. Sind ihnen die Rechte der EU im Nordirland-Protokoll des Brexit-Ausstiegsvertrages so sehr verhasst?
Ja, sie wollen unbedingt die alleinige Kontrolle des Vereinigten Königreichs über ihr Land zurückhaben und sowohl den Freihandel in der Irischen See behalten als auch auf der irischen Insel. Beides zu haben, geht nach dem Brexit aber nicht. Es gab seitdem gravierende ökonomische Verluste. Die sind an den Unionisten aber völlig vorbeigegangen und auch an allen anderen, die für den Austritt und den harten Brexit waren.

Nordirland würde durch einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Abkommen aber ökonomisch verlieren?
Ja, ganz klar. Nordirland profitiert vom aktuellen Status. Zum einen betreiben sie durch den Handel mit Irland freien Handel mit der gesamten EU. Zum anderen sind Grenzkontrollen immer kostspielig und wenn es die nicht gibt, ist das für beide Seiten positiv.

Welche Position vertritt die EU in dem Konflikt?
Der EU geht es im Wesentlichen um Agrarprodukte, die aus England, Wales und Schottland über die Irische See nach Nordirland gebracht werden. Sie will ihre Konsumenten vor den laxeren Standards des Königreichs schützen und sagt, dass es ohne Kontrollen keinen freien Handel zwischen Irland und Nordirland geben kann. Für die EU ist die gesamte irische Insel eine epidemiologische Einheit. Die Briten sehen ihre niedrigeren Anforderungen wiederum als Lockmittel für ausländische Investoren. Deswegen wird beim Ausmaß der Kontrollen um jedes Detail gekämpft, wie es für die EU und auch für Großbritannien typisch ist.

Für wen ist der Verbleib Nordirlands im EU-Binnenmarkt für Güter ökonomisch wichtiger, für die EU oder für das Vereinigte Königreich?
Eindeutig für das Vereinigte Königreich, weil die EU der größere bilaterale Akteur ist. Der kleinere Partner hat mehr zu verlieren. Die EU hat viele Handelsabkommen, die das Vereinigte Königreich nach dem Brexit alleine abschließen wollte. Dazu ist es bisher aber nur teilweise gekommen. Überhaupt: Der Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ist für die Briten seit dem Brexit erheblich teurer geworden und das Königreich auch wegen hausgemachter Wirtschaftsprobleme nicht mehr der attraktivste Investitionsstandort.

Die nordirische Wirtschaft hat sich zuletzt besser entwickelt als die des restlichen Vereinigten Königreichs mit England, Schottland, Wales und Guernsey. Wäre es angesichts der angeschlagenen Wirtschaft nicht auch im britischen Interesse, dass Nordirland im EU-Binnenmarkt bleibt?
Ja, den Nordiren geht es wirtschaftlich besser. Das muss auch so sein, weil sie all diese Handelsbarrieren eben nicht haben. Die hohen Kosten des Austritts tragen sie deshalb nur zu einem geringeren Teil als der Rest des Königreichs. Ökonomisch wäre es also klar besser, wenn Nordirland im EU-Zollgebiet bleibt, aber die Politik ist gespalten.

Premierminister Rishi Sunak ist in seiner eigenen Partei, den konservativen Tories, stark unter Druck. Wie viele Zugeständnisse an die EU kann er machen?
Eine Idee ist, der EU Zugriff auf die IT-Systeme des britischen Zolls zu gewähren, damit sie darüber vorab eindeutig klären kann, welches Produkt in Nordirland verbleibt und welches über die Grenze in die Republik Irland geht. Das wäre das System mit einer „Green Lane“ und einer „Red Lane“. Den harten Brexit-Vertretern gefällt das aber gar nicht, weil sie die britische Souveränität beschränkt sehen.

Bei den Tories sind immer noch viele bereit, die Kosten des Brexits zu tragen, auch wenn sie die Höhe vielleicht unterschätzt haben. Die Einstellung „Wir ziehen das durch, alles andere ist uns egal“, ist immer noch sehr verbreitet. Rishi Sunak ist als Ökonom sicherlich zugänglicher für ökonomische Argumente als es Boris Johnson war und erkennt, dass die Barrieren mit dem wichtigsten Handelspartner, der EU, die britische Wirtschaft zusätzlich zu den internen Problemen belasten. Aber auch Sunak wird der EU politisch nicht zu weit entgegenkommen können, indem er beispielsweise auf das Recht verzichtet, das Abkommen einseitig zu kündigen.

Ex-Premier Boris Johnson hat dieses Protokoll ausgehandelt. Am Wochenende deutete er an, es könnte ein wichtiges Druckmittel gegenüber der EU sein. Wieso meint er das?
Boris Johnson sieht das Protokoll als genau die Drohfassade, das gesamte Abkommen einseitig zu kündigen und damit die Kontrollrechte der EU zu beenden. Für das EU-Mitglied Irland wäre das politisch und ökonomisch fatal. Deshalb darf es aus Sicht der EU nicht so weit kommen. Außerdem möchte Johnson verhindern, dass die Regierung nach einer Neuverhandlung Rechte erhält, auch am Parlament vorbei der EU entgegenzukommen. Rein ökonomisch hat er kein Druckmittel.

Der Niedergang des Handels zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich hat schon unmittelbar nach dem Referendum 2016 begonnen. Das ging also sehr schnell, obwohl man da noch gar nicht wusste, wie hart der Brexit ausfallen würde. Die wahren Kosten sind dann durch den harten Brexit entstanden. Johnsons Meinung, das Vereinigte Königreich säße gerade am längeren Hebel, ist aus ökonomischer Sicht schlicht falsch.

Eigentlich schien es so, dass sich die Briten der EU auf Handelsebene langsam wieder annähern wollen.
Gerade sieht es ja auch so aus, als ob es mit der „Green Lane“ und der „Red Lane“ einen Kompromiss geben könnte. Die EU würde damit ihre sichtbaren Kontrollen einschränken, weil EU-Beamte an den Häfen weniger präsent wären, und dafür stärker auf unsichtbare Kontrollen über IT-Systeme setzen. Das wäre auch ein großer Vertrauensvorschuss der EU, dass sie den Briten bzw. Nordiren vertrauen, den endgültigen Bestimmungsort der Güter so zu trennen, wie es die Zollpapiere vorweg angeben.

Das wären aber durchaus große Zugeständnisse von Seiten der EU, oder?  
Ja, richtig. Sollte das aber nicht funktionieren, wird die EU wieder stärker kontrollieren. Wenn die Briten und die Unionisten damit leben können und die Kontrollen im Kleinen umgesetzt werden, machen beide Seiten einen Kompromiss – was sehr positiv wäre. Am Ende will die EU ja auch, dass sich die Meinungsbildung im Vereinigten Königreich langsam wieder in Richtung eines Hinterfragens des Ausstiegs bewegt. Deswegen ist man durchaus bereit mit einem Kompromiss an die Grenze zu gehen.

Würde die EU das Vereinigte Königreich denn zurücknehmen?
Tja, das ist sehr kompliziert. Einfach raus und jetzt wieder rein, gibt es nicht. Die EU würde den Brexit sicher gerne korrigiert sehen, aber sie hat eben ihre Regeln. Man würde sich angucken, was in der Zwischenzeit im Vereinigten Königreich passiert ist. Die Briten wollten immer liberaler sein und haben viele Regeln entschärft. Die EU würde fordern, diese Regeln wieder denen der EU anzupassen, beispielsweise bei Handel und Direktinvestitionen. Da, wo das Vereinigte Königreich glaubt eine Trumpfkarte zu haben und der EU als Wettbewerber überlegen zu sein, müsste es einen Schritt zurück machen. Politisch und regulativ wäre das sehr schwierig.

Halten Sie es denn für möglich, dass das Vereinigte Königreich der EU wieder beitreten wird?
Für die nahe Zukunft nicht. Man könnte sicherlich beim Güterhandel aufeinander zugehen. Aber die Zukunft liegt im Dienstleistungshandel, bei Finanzen, Künstlicher Intelligenz und anderen Technologien. Hier dürfte es zugleich die meisten Probleme geben, weil sich dabei geoökonomische Fragen stellen. Die EU ist für offene Märkte, aber nicht naiv, wie sie selbst sagt. Wenn die aktuellen politischen Entwicklungen in UK so weiter gehen, wird wahrscheinlich die Labour-Partei an die Macht kommen. Dort sind noch viele gegen einen, was das Verhalten der EU beeinflussen dürfte. Mit einem Kompromiss beim Nordirland-Protokoll wäre deshalb schon viel gewonnen.

Jüngste Umfragen zeigen, dass fast 60 Prozent der Britinnen und Briten dafür sind, wieder in die EU einzutreten. Unter jungen Menschen sind es noch mehr. Widerspricht das nicht der aktuellen Debatte?
Ja, einerseits schon. Andererseits müssen wir bedenken, wie knapp die Entscheidung 2016 war. Bei so einem Referendum gibt es eine enorme Polarisierung. Ein großes Problem der Briten ist die regionale Spaltung. Je näher die Menschen an der Südküste wohnen, desto eher erkennen sie die Vorteile des freien Handels mit der EU. Aber das trägt eben nicht bis nach Liverpool oder in die Midlands. Außerdem hat sich die bestehende ökonomische Spaltung zwischen dem wohlhabenden Süden mit London und dem abgehängten Norden seit dem Brexit weiter vertieft und bei einigen den Wunsch nach Unabhängigkeit bestärkt.

Die EU sollte alles, was gerade im Vereinigten Königreich passiert, langsam wirken lassen. Proaktiv zu sagen, der Austritt war ein unbedingt zu korrigierender Fehler würde Widerstand wecken und wäre kontraproduktiv. Die Briten müssen selbst erkennen, dass der Austritt verdammt teuer war und sie in Wahrheit nicht der bestimmende Akteur sind, wie Boris Johnson es ihnen vorgegaukelt hat.

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