In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: EZB-Geldpolitik – mit Redakteurin Nadine Oberhuber, die bei Capital für die Themen Geldanlage, Immobilien und Versicherungen zuständig ist.
Trägt die EZB die Hauptverantwortung für die Niedrigzinsen?
Sie trägt einen großen Anteil daran, weil sie als Notenbank die Leitzinsen festsetzt. Und sie hat sie seit Jahren nicht mehr angehoben, sondern immer weiter abgesenkt – auf null Prozent derzeit. Seit 2014. Aber die Europäische Zentralbank ist nicht alleine dafür verantwortlich, dass die Zinsen auf einem Rekord-Niedrigniveau verharren. Ein weiterer wichtiger Grund liegt darin, dass das Geldangebot so groß ist und zwar weltweit. Oder, wie Ex-US-Notenbankchef Ben Bernanke es schon 2005 formulierte: Wir erleben eine „globale Sparschwemme“. Denn Investoren und Sparer stellen Unmengen von Kapital bereit und wollen es angelegt wissen. Vor allem in sicheren Geldanlagen. Die Unternehmen auf der Nachfrageseite dagegen investieren zu wenig und die Staaten verschulden sich weniger als zuvor. Deshalb ist das Verhältnis von Geldangebot und Nachfrage verrutscht: Das Angebot steigt, die Nachfrage zieht aber nicht mit. Das lässt den Preis des Geldes sinken, also die Verzinsung für die Investoren. Vor allem bei den Anleihen merkt man das derzeit stark.
Seit Oktober 2019 ist Christine Lagarde die neue EZB-Chefin. Ihr Vorgänger Mario Draghi hat den Kurs mit niedrigen Leitzinsen konsequent verfolgt. Wird sich die Politik der EZB nun ändern?
An diesen Kurswechsel glauben die allerwenigsten Volkswirte derzeit. Nur sechs Prozent von ihnen, um genau zu sein, sagt eine Reuters-Umfrage. Christine Lagarde selbst hat sich bereits dazu geäußert und stattdessen gefordert, die Staaten müssten den Spielraum besser nutzen, den ihnen die Niedrigzinsen bieten. Sie müssten sich eben stärker verschulden und in ihre Wirtschaften investieren. Höhere Ausgaben also statt einer geringeren Geldmenge. Sie werde aber das Jahr 2020 dazu nutzen, mit Notenbankkollegen, Wissenschaftlern, EU-Parlament und der Gesellschaft über die neue Strategie der EZB zu diskutieren. Und sie will Kompromisse finden, sagt sie. Welche auch immer das am Ende sein werden. Mit einer Anhebung der Leitzinsen jedenfalls rechnen Beobachter nicht vor Ende 2021. Die Mehrheit rechnet auch nicht damit, dass die Zentralbank ihr jüngstes Anleihenkaufprogramm schon bald wieder aufgibt. Frühestens in zwei bis fünf Jahren könnte das der Fall sein.
Inflation gering, weil Löhne nicht wachsen
Die EZB hat sich zum Ziel gesetzt, die Inflationsrate bei „unter, aber nahe zwei Prozent“ zu halten. Aber sie verfehlt dieses Ziel konsequent, wieso?
Wenn klar wäre, warum die Zentralbank es nicht schafft, trotz der Flutung der Märkte mit Geld die Inflation wieder anspringen zu lassen, dann hätte sie dieses Problem vermutlich nicht. Das Zwei-Prozent-Ziel setzte sie sich in früheren Jahren, als zwei Prozent Inflation in ihren Augen stabile Preise garantierten. Damals kam die Welt aus der Hochzinsphase der 90er-Jahre, da lagen die Leitzinsen anfangs noch bei 8 Prozent und die Inflation bei 5 Prozent. Heute liegt die Inflationsrate bei gut einem Prozent (zuletzt 1,3) und das Wirtschaftswachstum kam zuletzt auch bloß auf 1,25 Prozent. Grundsätzlich fällt die Inflation so gering aus, weil auch die Löhne nicht wachsen. Woran das liegt, fragen sich sehr viele Ökonomen.
Zudem führt der technologische Fortschritt dazu, dass viele Produkte billiger hergestellt werden, deshalb ziehen auch die Preise nicht so stark an. Insgesamt fällt auf, dass die Notenbankpolitik nicht mehr wirkt, zumindest stimuliert sie die Wirtschaft nicht mehr im selben Maße wie früher. Sondern sie wirkt eigentlich nur noch auf dem Finanzmarkt, wo sie die Preise von immer mehr Anlageklassen aufbläht.
Banken müssen der EZB Negativzinsen für ihre Einlagen zahlen. Diese geben sie teilweise an ihre Kunden weiter, so etwa die Commerzbank oder die Deutsche Bank. Was bedeutet das für die Kunden?
Inzwischen erheben knapp 40 bis 60 Banken hierzulande von Privatanlegern Negativzinsen, je nachdem welcher Statistik man vertraut. Verbreitet fordern die Institute dabei minus 0,4 bis 0,5 Prozent. Aber: Oft greift diese „Gebühr für Ersparnisse“, so nennen manche sie auch, erst ab einer sechsstelligen Summe. Das heißt: 100.000 Euro pro Person kann man bei den allermeisten Banken noch umsonst auf dem Tagesgeldkonto „parken“. Bei manchen werden auch erst ab 250.000 Euro die Gebühren fällig. Und: Niemand muss diese Negativzinsen zahlen, denn es gibt ja noch genügend Banken, die sie nicht erheben. Also: Wechseln Sie die Bank, wenn Sie betroffen sind! Bei manchen Banken bekommt man als Neukunde sogar noch Positivzinsen fürs Geld. Die Comdirect etwa zahlt aktuell für 25.000 Euro 0,62 Prozent, wenn auch nur für drei Monate. Bei der Credit Agricole kann man sogar 0,8 Prozent einstreichen bei 3 Jahren Laufzeit.
Profitieren vom Niedrigzins
Kann man als Verbraucher auch vom Niedrig- bzw. Negativzins profitieren?
Wenn man einen Kredit aufnimmt, dann profitiert man von den Rekordniedrigzinsen, ganz klar. Wer eine Immobilie kaufen will, der kann sich aktuell bei 15 Jahren Kreditlaufzeit für ein Prozent verschulden. Damit liegt der Sollzins niedriger als die Inflationsrate. Das klingt verrückt. Auch Konsumentenkredite sind sehr billig geworden. Nicht zu vergessen, die Firmenkredite: Unternehmen haben heute ebenfalls die besten Möglichkeiten, ihre Expansion mit billigem Geld zu finanzieren. Dadurch entstehen neue Arbeitsplätze, die allen nützen. Und der Staat profitiert natürlich: Denn auch er zahlt keinen Zinsen mehr für die Staatsanleihen, die er ausgibt, sondern er bekommt sogar Geld von den Investoren gezahlt. Das schmälert die Staatsverschuldung. Und es ließe der Bundesrepublik neuen Raum für Zukunftsausgaben. Natürlich muss man aber bei der Verschuldung immer aufpassen: Denn eine solche Expansion auf Pump birgt große Gefahren, wenn die Zinsen doch wieder steigen. Oder wenn die Wirtschaft schwächelt. Dann werden solche Kredite schnell unbezahlbar.
Wäre es sinnvoll, wenn die EZB ihr Inflationsziel anpassen, also absenken würde?
Darüber diskutiert die neue Chefin Christine Lagarde nun mit ihren Notenbank-Kollegen, zumal Ökonomen sagen: Die Hochinflationszeiten seien ohnehin vorbei. Würde die EZB statt des Zwei-Prozent-Zieles eine Inflation von 1,25 oder 1,5 Prozent für angemessen halten – oder einen Zielkorridor festlegen –, dann könnte sie nämlich ihre extrem lockere Geldpolitik einstellen und die Geldmenge wieder straffen. Denn die niedrigere Marke hätte sie bereits erreicht. Würde sie die Zinsen anheben, dann verringerte sie auch den Abstand zu den US-Leitzinsen wieder deutlich. Doch es gibt große Uneinigkeit zwischen den einzelnen Länder-Notenbankchefs, ob das sinnvoll wäre. Denn bei einer Zinsanhebung gerieten vor allem die Südländer wegen ihrer hohen Staatsverschuldung unter großen Druck, allen voran Italien. Das wäre gefährlich. Zudem drohe der Zentralbank ein Glaubwürdigkeitsverlust, warnen Ökonomen. Denn es wäre das Eingeständnis, dass die Politik der vergangenen Jahre falsch gewesen sei.