Es geht um drei Minuten. So lange nämlich dürfen Fließbandarbeiter pro Stunde auf die Toilette. Und weitere fünf Minuten, in denen sich Akkordmalocher von ihrer schweißtreibenden Arbeit erholen dürfen. Voll bezahlt, versteht sich. Insgesamt acht Minuten, die als Meilenstein der Tarifgeschichte gelten.
Dabei gilt die sogenannte Steinkühler-Pause, die in den Köpfen vieler als tariflich vereinbarte Pinkelauszeit abgespeichert ist, nur in Baden-Württemberg. Benannt ist sie nach Franz Steinkühler, dem damaligen Verhandlungsführer der IG Metall.
Vereinbart wurde sie im Herbst 1973. Drei Jahre lang hatte der Stuttgarter Bezirksleiter Steinkühler zuvor für humanere Arbeitsbedingungen am Band gekämpft. 20 Verhandlungsrunden waren ergebnislos verstrichen, auch ein Schlichter hatte den Metallarbeitgeberchef Hanns Martin Schleyer nicht zum Einlenken bewegen können.
Der Streit schwelt immer noch

Die Zeichen standen auf Streik. 89 Prozent der IG Metaller befürworteten in der Urabstimmung den Ausstand bei Daimler und Bosch, 57.000 Beschäftigte nahmen teil – es war die große Zeit der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber knickten nach drei Wochen ein und unterzeichneten den Lohnrahmentarifvertrag II, der etliche Bestimmungen zur Arbeitsorganisation und Entlohnung enthielt. Vieles davon ist heute vergessen, doch die Steinkühler-Pause ist noch immer ein Begriff. Für die damalige Zeit war sie wegweisend: Erstmals hatte die IG Metall die Gestaltung der Arbeit zum Gegenstand von Tarifverhandlungen gemacht.
Der Streit um die garantierte Bedürfnisbefriedigungszeit ist bis heute nicht beigelegt. Immer wieder ist die Steinkühler-Pause Gegenstand von Tarifverhandlungen. Wie 2006, als die Arbeitgeber sie abschaffen wollten, weil sie nicht mehr zeitgemäß sei. Viele Mitarbeiter, so die Argumentation, nähmen ihre Pausen gar nicht in Anspruch, sondern verrechneten sie als Überstunden. Denn aus sieben Stunden Arbeitszeit werde nach Abzug der Pausen ein Sechs-Stunden-Tag. Der damalige IG-Metall-Chef Jürgen Peters ließ aber nicht mit sich verhandeln, er kämpfte für die Pinkelpause als „Menschenrecht für Fließbandarbeiter“ – und gewann.
Im Rest der Republik schüttelt man eher den Kopf über die schwäbische Sonderregelung. Die Bedingungen an den Bändern haben sich verändert, auch in anderen Bundesländern dürfen Malocher auf die Toilette – ganz ohne Steinkühler.
Hauptperson
Franz Steinkühlerwurde 1937 in Würzburg geboren. Der gelernte Werkzeugmacher galt als große Hoffnung der IG Metall. Als Bezirksleiter in Baden-Württemberg führte der eloquente und stets elegant gekleidete Steinkühler viele harte Verhandlungen. 1986 wurde er Chef der IG Metall und setzte die 35-Stunden-Woche durch. Im Mai 1993 trat er von seinem Posten zurück, nachdem er in den Verdacht geraten war, sein Aufsichtsratsmandat bei Daimler für Insidergeschäfte genutzt zu haben.
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