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Capital erklärt Wie Corona das Geschäftsmodell der Fleischindustrie infrage stellt

Um die Krise bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück in den Griff zu bekommen, hilft auch die Bundeswehr. Ein Soldat steht vor dem Werksgelände
Um die Krise bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück in den Griff zu bekommen, hilft auch die Bundeswehr. Ein Soldat steht vor dem Werksgelände
© Noah Wedel / IMAGO
Nicht nur Tönnies, sondern auch andere Fleischkonzerne haben mit Corona-Ausbrüchen in ihren Schlachthöfen zu kämpfen. Claus Hecking erklärt, warum gerade dort das Virus grassiert und welche Konsequenzen die Fleischindustrie daraus zieht

In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: Warum die Fleischindustrie zum Epizentrum der Corona-Krise in Deutschland geworden ist – mit Redakteur Claus Hecking.

Wie konnte es zum Corona-Skandal im Fleischkonzern Tönnies kommen?

Das steht noch nicht fest. Klar ist: die Arbeitsbedingungen begünstigen die Ausbreitung des Virus. Bei Tönnies und anderen großen Schlachthöfen arbeiten Tausende so genannte Werkvertragsnehmer aus Osteuropa. Sie stehen bei Subunternehmern unter Vertrag und werden in den großen Fabriken zum Schlachten, Zerlegen oder Verpacken eingesetzt. Diese Menschen leben in Deutschland oft in prekären Verhältnissen, etwa in Gemeinschaftsunterkünften auf engem Raum. Und sie werden manchmal mit Kleinbussen zur Fabrik gefahren. Da ist es extrem schwer, Abstand zu halten.

Vieles deutet auch daraufhin, dass die Schlachthöfe selbst ein guter Lebensraum für das Sars-Cov-2-Virus sind. Der Virologe Christian Drosten vermutet, die Kühlschranktemperaturen in den Schlachthöfen könnten die Ausbreitung begünstigen. Es ist nicht nur kalt, sondern auch feucht in den Werken, und die künstliche Belüftung könnte in den geschlossenen Räumen womöglich virushaltige Aerosole von einem Arbeitsplatz zum nächsten tragen. Vor allem aber stehen in diesen Schlachthöfen viele Menschen auf engem Raum beieinander, so sind die Fabriken konzipizert. In der Zerlegung etwa fährt das Stück Fleisch am Fließband an verschiedenen Stationen vorbei. Dort macht ein Mitarbeiter manchmal nur einen oder zwei Schnitte, und direkt neben ihm steht schon der nächste Kollege für den nächsten Schnitt. Solche Arbeitsabläufe lassen sich nicht ohne Weiteres verändern. Und würde man die Abstände zwischen den einzelnen Zerlegern vergrößern, gäbe es schlicht nicht genug Platz.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil fordert, Tönnies solle für Schäden haften, die durch den Coronavirus-Ausbruch im nordrhein-westfälischen Kreis Gütersloh entstanden sind. Wie teuer würde das?

Das kann niemand seriös beziffern. Die Forderung des Bundesarbeitsministers ist noch sehr unkonkret. Welche „Schäden“ sie genau umfasst, hat Hubertus Heil nicht definiert. Und es gibt ganz unterschiedliche Schäden. Am Dienstag hat NRW-Ministerpräsident Armin Laschet Auflagen für den Kreis Gütersloh und das benachbarte Warendorf verhängt: Ausstellungen und Museen müssen wieder schließen, Freizeitaktivitäten in geschlossenen Räumen außerhalb des Haushalts sind verboten. Kitas und Schulen sind schon seit einigen Tagen zu. Wie soll man einen „Schaden“ hier überhaupt berechnen? In den vergangenen Tagen mussten tausende Mitarbeiter und Angehörige getestet werden; jetzt müssen sie in der Quarantäne versorgt werden. Soll Tönnies alles bezahlen? Wäre das Unternehmen bereit dazu oder würde es sich vor Gericht wehren? Hätte es überhaupt so viel Geld?

Was bedeutet der Ausbruch bei Tönnies für die deutsche Fleischindustrie?

Zunächst einmal einen gewaltigen Imageschaden. Es ist ja auch nicht der erste Fall. Vier Konzerne dominieren den deutschen Schweine- und Rindfleischmarkt: Tönnies, Westfleisch, Vion aus den Niederlanden und Danish Crown aus Dänemark. Alle hatten schon größere Corona-Ausbrüche. Das wirft ein Licht auf die Strukturen in der Branche: die Werkverträge, mit denen letztlich deutsches Arbeitsrecht umgangen wird. Die Unterkünfte, der Transport, die Arbeitsbedingungen, die Umgehung des Mindestlohns, unbezahlte Überstunden, Tricksereien bei der Arbeitszeit und so weiter. Die Konzerne haben gerne die Verantwortung auf die Subunternehmer abgewälzt. Sie wollten es am liebsten gar nicht so genau wissen. Aber jetzt geraden sie unter massiven öffentlichen Druck. Sie können nicht mehr drüber hinwegschauen.

Infografik: Ausländeranteil in der Fleischindutrie hat sich verdreifacht | Statista

Mehr Infografiken finden Sie bei Statista

Sind Verbesserungen zu erwarten?

Einige Unternehmen, darunter auch Tönnies, haben jetzt angekündigt, die Werkverträge abzuschaffen. Aber was kommt stattdessen? Die Margen in der Branche sind nicht besonders hoch, echte Verbesserungen der Arbeitsbedingungen würden erst mal viel Geld kosten. Und sind die Schlachthöfe dann Corona-sicher? Fraglich. Auch in Ländern wie den USA, Brasilien oder Kanada ist es reihenweise zu Ausbrüchen gekommen – obwohl es dort keine osteuropäischen Werkvertragsnehmer in Massenunterkünften gibt. Und es ist auffällig, dass hierzulande in anderen Branchen wie dem Bau, in denen häufig mit Werkverträgen gearbeitet wird, bislang viel weniger Corona-Infektionen bekannt werden. Das legt den Schluss nahe, dass Schlachthöfe generell ideale Refugien für Viren sind.

Und wenn es so ist?

Dann stellt sich die Systemfrage: Ist die Volksgesundheit wichtiger oder die Versorgung mit Fleisch?

Das Tönnies-Werk in Rheda-Wiedenbrück ist jetzt geschlossen. Werden der Verbraucher das in den Supermärkten merken?

Diese Fabrik ist das Epizentrum der deutschen Fleischproduktion. Etwa jedes achte Mastschwein in Deutschland wird normalerweise hier getötet. Zuletzt waren das etwa 140.000 Tiere pro Woche. Aber Fleischfans müssen deswegen nicht gleich zum Hamstern rasen. Tönnies hat andere Schlachthöfe, auch Konkurrenten werden einen Teil der Ausfälle auffangen. Ihre Werke laufen ja mittlerweile wieder. Wenn es dort jetzt wieder große Ausbrüche gäbe, könnte sich die Lage ändern. Eins muss ich noch loswerden: Tönnies und die anderen Konzerne liefern ihr Fleisch und ihre Wurst nicht nur an Discounter. Auch manches Fleischerfachgeschäft kauft da ein.

Infografik: Über 2 Millionen Tiere werden täglich geschlachtet | Statista

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Werden die Skandale uns Verbraucher das Fleisch madig machen?

Im Moment werden sich viele Menschen überlegen, ob sie Fleisch kaufen und wo sie welches Fleisch kaufen. Aber wir alle verdrängen gerne. Und: Oft wissen wir nicht, woher das Stück Fleisch in der Kühltheke kommt und unter welchen Bedingungen es produziert wurde. Wir brauchen hier viel mehr Transparenz. Strukturen zur Rückverfolgung des Fleisches sind schon angelegt. Sie müssen jetzt genutzt werden. Dafür müsste der Gesetzgeber einschreiten. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn man bei jedem Stück Fleisch nachvollziehen könnte, woher es genau kommt, unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde. Damit hätten es die Konsumenten leichter, die für sie richtige Wahl zu treffen.

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