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Kommentar Wählt (auch) die, die nichts tun wollen!

Normalerweise wählen wir Parteien für Dinge, die sie verändern sollen. Diesmal sollten wir genau hinschauen, wo die Politiker ausnahmsweise mal ihre Finger von lassen wollen. Von Horst von Buttlar
Horst von Buttlar
Chefredakteur Horst von Buttlar
© Trevor Good

Die „ruhige Hand“ hat einen schlechten Ruf in Deutschland, seit Gerhard Schröder einst seine Wirtschaftspolitik damit umriss. Die „Politik der ruhigen Hand“, die es sogar zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht hat, steht für jemanden, der nichts tut oder wagt oder die Dinge laufen lässt. Das geht natürlich nicht, ein Politiker muss immer etwas tun, reformieren, verändern, gestalten. Vielleicht wäre es an der Zeit, zumal vor dieser Bundestagswahl, diese Hand-Metapher etwas zu erweitern – um eine Hand, die nicht herumpfuscht, die einfach mal ihre Finger von etwas lässt.

Das gilt für alle Parteien gleichermaßen, 2013 aber vor allem für SPD und Grüne, die mit ihren Ideen zur Steuerpolitik, aber auch bei der Rente oder der Krankenversicherung Pläne präsentieren, mit denen sie sicherlich großen Schaden anrichten werden, wenn man sie gestalten lässt. Vor allem bei den Steuern, die beide Parteien für jene kräftig erhöhen wollen, die sie als „reich“ empfinden, gibt es einen wahrlichen Begründungsnotstand: Einfach nur auf hohe Schulden zu verweisen, reicht nicht, zumal der Schuldenstand Deutschlands, wenn die Wirtschaft weiter so wächst, bald wieder sinken könnte. Einige führen an, dass es doch tatsächlich viel zu holen gibt, bei den Reichen – was vielleicht sogar stimmt. Aber auch das ist kein Grund, schließlich ist ein Staat kein Raubritter, dem das als Begründung reicht.

Wer verstehen will, warum diese Steuerpläne so schlecht sind, muss sich zunächst einmal mit dem Versagen von Schwarz-Gelb beschäftigen. Im Rückblick können wir froh sein, dass diese Regierung an manchen Stellen nichts auf die Reihe bekommen hat. Nirgendwo zeigt sich das besser als bei der Steuerpolitik. Angetreten war vor allem die FDP, das Steuersystem einfacher zu machen – und die Sätze zu senken. Weil aber ab 2009 diese etwas nervige Schuldenkrise in Europa wütete, beschloss Angela Merkel, dass dafür kein Spielraum sei. Also wurden keine Steuern gesenkt, und siehe da: Die Einnahmen steigen seit Jahren, und wenn es so weiter geht, wird der Fiskus bald 700 Mrd. Euro an Einnahmen haben. Vor dem Auge entsteht das Bild eines Motors, der bei guter Konjunktur in voller Leistung läuft – oder das eines Hochofens, der langsam hochgefahren wurde und nun in voller Hitze dampft und glüht.

Deutschland funktioniert

Es ist eine eigenartige Erfahrung für uns Deutsche: Ein System läuft. Nicht überall und nicht perfekt, aber es läuft. Jahrelang haben wir an diesem, scheinbar auf Niedergang programmierten System, der Rente, den Steuern, dem Arbeitsmarkt, herumgebastelt wie ein Ingenieur an seiner Maschine. Es gab Dutzende Kommissionen, Papiere, Bücher und Gesetze, mit denen Deutschland gerettet werden sollte. Dass wir etwas laufen lassen oder bestehen lassen können – und mal nicht optimieren –, ist eine so neue Erfahrung, dass sie jedem Politiker augenblicklich Phantomschmerzen bereiten muss.

Ein Steuersystem muss vor allem zwei Anforderungen erfüllen: Es muss effizient sein und gerecht. Effizient bedeutet, dass es dem Staat genügend Einnahmen verschafft und erfolgreich die Steuern eintreibt. Beim Thema Gerechtigkeit wird es schon etwas komplizierter, weil die berühmten „starken Schultern“ nach Ansicht vieler Politiker pausenlos mehr tragen sollen, während die angeblich starken Schultern meinen, schon eine ganze Menge zu tragen. Gerecht bedeutet bei uns aber immer gerecht nach unten, also ob der „kleine Mann“ das System als gerecht empfindet. Dabei geht es genauso um die Leistungsträger, denn ein Steuersystem darf keinen falschen Anreize setzen – indem Menschen etwa darauf verzichten, mehr zu arbeiten, weil es sich für sie einfach nicht lohnt.

Die Wissenschaft ist voll von Studien, die untersuchen, wie Steuern das Verhalten von Menschen verändern oder verzerren. Die so genannte „Laffer-Kurve“ beschreibt, wie sich Steuersätze auf die Einnahmen auswirken, denn sind die Sätze zu hoch, kann es sein, dass die Staatseinnahmen plötzlich wieder sinken. Jedes Land also sucht verzweifelt nach dieser Balance, nach dem goldenen fiskalischen Schnitt – kann es sein, dass Deutschland mit dem derzeit gültigen System ein richtiges Maß gefunden hat?

Steuersystem in Ruhe lassen

Seit vielen Jahren steht das Steuersystem von zwei Seiten unter Beschuss: Auf der einen Seite waren die Bierdeckel-Flattax-Stufenmodell-Vereinfacher. Auf der anderen Seite die Starke-Schultern-Geldeintreiber, deren neues Idol Helmut Kohl ist, bei dem ja auch schon ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent galt. (Was ist die Botschaft solcher Aussagen? Zurück in die 90er? Abgesehen davon: Der Spitzensteuersatz griff 1990 ab 120.000 D-Mark, heute ab 53.000 Euro. Wenn man die Inflation hinzurechnet, greift der Spitzensteuersatz heute absurd früh. Dieses wichtige Detail wird gern verschwiegen.)

Da es um die Bierdeckel-Fraktion zuletzt still geworden ist – oder Verfechter wie Friedrich Merz sogar Abbitte leisten – wäre es am besten, bei den Steuern erst mal nichts zu tun. Es gibt genügend andere Spielfelder für reformfreudige Politiker.

SPD-Rentenplakat in der West-Variante
Wahlplakat der SPD zur Rente

Ähnliches gilt für die Rente: Die SPD beherrscht ja die Kunst, mit ihrem linken Hintern einzureißen, was die pragmatische Hand aufgebaut hat. Wie viel Kraft hat die Partei die Einführung der Rente mit 67 gekostet! Bei kaum einem anderen Thema wird der notorische Zwang von Politikern so offenkundig, richtige Reformen zurückzudrehen oder nachträglich darin herumzupfuschen. Dabei hat Deutschland gerade in der Rentenpolitik, so könnte man es etwas abgegriffen formulieren, seine Hausaufgaben gemacht.

Dahinter stand einmal die Einsicht, dass das staatliche, über Beiträge finanzierte Umlagesystem in der Form nicht tragfähig ist. Dabei geht es nicht um Ideologie. Bei der Rente geht es sowieso weniger um Ideologie, als um Demografie. Und die ist eine relativ nüchterne, exakte Wissenschaft. Da die Kinder, die dieses System einmal in 30 Jahren finanzieren müssen, schon heute geboren sind (oder eben nicht), kann man sich gut ausrechnen, was tragfähig ist und was nicht.

Also wurde beschlossen, dass das Niveau der gesetzlichen Rente von 51 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2030 sinken wird. Dafür wurde die Rentenformel modifiziert und ein Nachhaltigkeits- sowie ein Nachholfaktor eingebaut (mit letzterem können unterbliebene Rentenkürzungen nachgeholt werden). Außerdem führte die Große Koalition die Rente mit 67 ein. Mit diesem überschaubar schmerzlichen Eingriff könnte Deutschland die nächsten Jahrzehnte ordentlich leben, auch wenn gern vergessen wird, dass ein Drittel des Bundeshaushalts jedes Jahr direkt in die Rentenkasse wandert.

Nicht jeder Minijob ist prekär

Doch eifrige Sozialpolitiker wollen uns das alles nicht zumuten. So wie 2009, als von Union und SPD eine Rentengarantie beschlossen. Diese verhindert Rentenkürzungen, wenn Löhne sinken und damit eigentlich auch die Rente sinken müsste. Es war Peer Steinbrück, der später freimütig zugab: „Ich hätte nicht mitmachen dürfen! Das war ein Tabubruch. Das war – im Sinne der Generationsgerechtigkeit – eine falsche Entscheidung.“

Das dritte Beispiel neben Steuern und Rente wäre der Arbeitsmarkt: Hier haben mehrere Politiker ein neues Millionenheer an prekären Beschäftigten entdeckt, dass sie abschaffen – respektive mit einem Simsalabim in Vollzeitarbeitnehmer umwandeln wollen. Keine Frage, es gibt auf dem Gebiet der Leih- und Zeitarbeit Verwerfungen und Fehlentwicklungen. Doch die Großreformer machen, oft ganz bewusst, einen großen Fehler: Sie setzen „atypisch“ mit „prekär“ gleich. Nicht jeder, der in Teilzeit arbeitet oder einen Minijob hat, hat eine prekäre Beschäftigung. Wenn sich Gregor Gysi empört, und das tut er derzeit sehr oft, wirft er trotzdem alle in einen Topf.

All das bedeutet nicht, dass Deutschland nicht mehr reformieren muss, im Gegenteil: Unser Land verliert gerade an Wettbewerbsfähigkeit. Wir merken es noch nicht, teilweise ist es politisch auch gewollt (damit die Südeuropäer wettbewerbsfähiger werden), doch es wird der Tag kommen, an dem wir etwas tun müssen. Auch beim Megathema Integration könnten Politiker ihre Reformenergie freisetzen: Deutschland erlebt einen Zustrom von Tausenden gut ausgebildeten Arbeitskräften aus ganz Europa – es gibt keinen Masterplan für diese große Chance und Herausforderung. Dabei müssen wir alle so behandeln, als ob sie für immer bleiben. Kein spanischer Arzt, der als Au Pair kommt, sollte danach Taxi fahren. Drittes Megathema ist jenes, was wir immer noch Energiewende nennen - da haben Umweltpolitiker ein Monster erschaffen, das sie dringend bändigen müssen.

Es bleibt zu hoffen, dass auch eine Große Koalition auf Steuererhöhungen verzichtet; dass sie die Finger von der Rente lässt und die Geldverteilmaschine nur moderat anwirft.

Ja, es gibt immer viel zu tun – aber kluge Reformer müssen vor allem erkennen, wo es ausnahmsweise mal nichts oder weniger zu tun gibt.

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Fotos: © Trevor Good; SPD

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