Horst von Buttlar ist Capital-Chefredakteur
Wenn man irgendwann auf diesen Bundestagswahlkampf 2013 und den Kandidaten Peer Steinbrück zurückblicken wird, wird man sich vermutlich an zwei Dinge erinnern: an den Spruch "Hätte, hätte, Fahrradkette" und einen Mittelfinger, der seit Ende der Woche den inneren Frieden der Republik aufgewühlt hat.
Das Stinkefinger-Bild ist - so muss man es nun sagen - ein Coup des "Süddeutsche Magazins", es entstand im Rahmen der "Sagen Sie jetzt nichts"-Reihe, ein Interviewformat, das nur über Fotos geführt wird.
Die Frage lautete: "Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi - um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?" Der Mittelfinger ist die ehrliche Antwort.
Nun ist Ehrlichkeit nicht mit Klugheit gleichzusetzen, denn ehrlich war Peer Steinbrück öfters in diesem Wahlkampf. Es war aber nicht eine grundehrliche Grundmelodie; die Ehrlichkeit brach förmlich aus ihm raus, zu beobachten war eine eruptive Ehrlichkeit, die seine ganze Gequältheit und Genervtheit offenbarte, sich diese Kandidatur und vor allem in dieser Partei angetan zu haben. Der Stinkefinger ist da der logische und authentische Schlusspunkt. Man könnte auch sagen: Dieser Finger war zwingend.
Gespielte Empörung
Wo Wahlkampf ist, erscheinen Sich-Aufreger auf Knopfdruck: "Das kann doch wohl nicht der Stil eines Bundeskanzlers sein", twitterte etwa Gesundheitsminister Daniel Bahr. Und FDP-Chef Philipp Rösler sagte: "Die Geste verbietet sich als Kanzlerkandidat. So etwas geht nicht."
Zur Erinnerung: Was offenbar geht, ist, dass man als Minister sagt: "Ich muss mal für kleine Minister." Zumindest ist das von Rösler überliefert. Stellen wir ihn mal lieber hintenan.
Also: Darf man das?
Jeder, der darüber nachdenkt, wird vermutlich überlegen, wann er selbst zuletzt die Geste gemacht hat. Im Büro? Wohl kaum. Allenfalls, wenn der Chef sich umdreht oder bei megahippen Startups, die 2021 den ersten Gewinn anpeilen. Zu einem blöden Autofahrer, der nicht links abbiegen kann? Dafür kann man sogar eine Anzeige bekommen.
Ansonsten ist der Mittelfinger ein wenig wie das Wort "geil" - wer ihn wohl dosiert einsetzt, erzielt damit die besten Effekte. Allerdings gelten für Menschen in der Öffentlichkeit immer andere Maßstäbe. Wir wären ja auch befremdet, wenn Angela Merkel sagen würde, dass die Beziehungen zu Polen gerade "ziemlich geil" laufen.
Wahlkampf war nicht langweilig
Wenn wir uns jetzt also ganz korrekt aufregen, ist die Geste eines Kandidaten tatsächlich unwürdig. Allerdings ist diese Aufregung irgendwie genauso spießig, wie sich ständig über die Deutsche Bahn aufzuregen. Denn es ist ja nicht so, dass dieser Stinkefinger nun den gesamten Wahlkampf runterzieht. Denn der war nicht langweilig, wie viele immer geschrieben haben (Journalisten schreiben das, wenn sie sich selbst langweilen, und wenn es dann Streit gibt, regen sie sich über den "Zoff" und das "Chaos" auf - freuen Sie sich schon auf den ersten "Koalitionskrach" im November.)
Nein, der Wahlkampf war unwirklich. Wenn man im Fernsehen wahlkämpfende Politiker sah oder in der Zeitung darüber las, wirkte es zuweilen, als sei das Ganze eine Aufführung, die woanders stattfände. Dieser Wahlkampf fand in einem Land statt, das nicht wirklich wählen will, weil es nicht wirklich etwas ändern will. Man könnte, wie viele das getan haben, diese Haltung selbstzufrieden oder satt nennen, und den Deutschen unmerkliche Verfettung vorwerfen. Man könnte es den Deutschen aber auch zugestehen, dass sie einfach mal einigermaßen happy sind.
Nun also der Stinkefinger.
Im Grunde können wir sogar dankbar sein: Wer diesen ganzen Wahlkampf kaum verfolgt hat, und das dürfte eine Mehrheit sein, bekommt am Ende die beiden Kandidaten auf eine Geste reduziert: Merkels Raute (mit denen sogar auf Plakaten geworben wird) - und Steinbrücks Stinkefinger. Der Finger passt zu Steinbrück. Aber nicht in dieses Deutschland 2013.
Mehr zum Wahlkampf: Was soll ich nur wählen? und Zwei Farben Rot
Foto: © Trevor Good; Alfred Steffen/SZ-Magazin