Gut 90 Kilometer sind es von Magdeburg nach Brandenburg an der Havel, etwa eine Stunde mit dem Auto über die A2 gen Osten. Wenn 30 Mrd. Euro eine Ausstrahlung haben, dann sollte etwas davon auch in 90 Kilometern Entfernung zu spüren sein. Und zumindest bis zum Dienstag dieser Woche war davon ja stets die Rede: die größte Einzelinvestition der deutschen Nachkriegsgeschichte, davon zehn Milliarden vom Bund (und damit von uns Steuerzahlern), die größte und modernste Chipproduktion Europas, die ganzen Zulieferer, die sich um die Megafabriken bei Magdeburg ansiedeln sollten, 10.000 neue Jobs – das werde ganz Ostdeutschland, ja, im Grunde das gesamte Land beflügeln.
So klang es, wenn man den wichtigsten Befürwortern der Riesen-Investition zuhörte, allen voran Kanzler Olaf Scholz und seinem Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die Ausstrahlung der schicken neuen Intel-Fabrik sollte sogar den Kanzler und seine ramponierte Ampelkoalition in Berlin wieder zum Glänzen bringen.
Was aber passiert, wenn diese 30 Milliarden plötzlich wieder weg sind? Strahlt das dann auch aus, zum Beispiel bis nach Brandenburg, wo an diesem Sonntag gewählt wird? Es ist die letzte Landtagswahl in diesem Jahr, und eine besonders wichtige für den Kanzler: Brandenburg ist SPD-Land, hier regiert die Partei ununterbrochen seit dem Mauerfall.
Natürlich haben die Brandenburger ihre eigenen Themen, ihre Investitionsprojekte – auch umstrittene wie die Tesla-Fabrik in Grünheide östlich von Berlin –, und ihre Bauruinen. Aber die nun vorerst abgesagte Chipfabrik von Intel dürfte den Wahlkampf der SPD hier auf den letzten Metern nicht wirklich beflügelt haben. Und deshalb geht es an diesem Sonntag in Brandenburg nicht nur um einen tapfer kämpfenden Ministerpräsidenten, sondern auch um den Kanzler und seine Bilanz nach drei Jahren im Amt.
Was das Intel-Aus über die Wirtschaftspolitik der Ampel aussagt
Die letzten Umfragen deuten an, dass es wirklich knapp wird: Möglich ist, dass Regierungschef Dietmar Woidke seine SPD noch vor die AfD hievt. Die jüngsten Umfragen signalisieren ein extrem knappes Ergebnis. Ebenso wahrscheinlich ist aber auch, dass die SPD hinter der AfD landet, es selbst für eine große Koalition mit der CDU gegen AfD und BSW nicht reicht und Woidke entnervt das Handtuch werfen könnte. Dann von einem Achtungserfolg für die SPD und den Kanzler zu sprechen, wie es sich Scholz‘ Strategen im Kanzleramt ausmalen, wird dann schwierig.
Der vorläufige Rückzieher von Intel – offiziell ein Aufschub um zwei Jahre, von dem aber alle ahnen, dass es ein endgültiger Rückzug werden wird – hat viel mit den Problemen des US-Konzerns zu tun und wenig mit den Bedingungen am Standort Deutschland. Insofern passt Intel auch nicht in die Standortniedergangs-und-Verlustangst-Apokalypsen, die in dieser Woche als Erklärung schnell wieder feilgeboten wurden. Doch über den wirtschaftspolitischen Ansatz dieser Ampelkoalition von Olaf Scholz sagt der Rückzug sehr wohl etwas aus.
Scholz und sein grüner Wirtschaftsminister Habeck hatten sich – möglicherweise für sie auch eine Lehre aus den staatlichen Rettungsaktionen während der Coronapandemie etwa bei der Lufthansa – bewusst zu Beginn ihrer Koalition entschieden, künftig strategisch wichtige Industriebranchen gezielt zu fördern. Milliarden für einzelne Unternehmen hatten Vorrang vor allgemein besseren Rahmenbedingungen für alle. Und was strategisch wichtig für den hiesigen Standort ist, das sollte künftig – der erste Grundfehler dieses Politikansatzes – in Berlin entschieden werden: die Chipindustrie (um die Abhängigkeit von Taiwan und China zu reduzieren), Elektrobatterien (für den Umstieg der deutschen Autohersteller auf den Elektroantrieb) oder die Produktion von grünem Stahl mit Wasserstoff (um den CO2-Ausstoß des Landes zu drücken).
Diese drei Schwerpunkte waren nicht völlig falsch, aber all die Milliarden für Chipfabriken, Batteriewerke und neue Stahlöfen (in Summe locker 30 Mrd. Euro in den kommenden fünf Jahren) fraßen den finanziellen Spielraum auf, den die Koalition gebraucht hätte, um ihren ehrgeizigen – man könnte auch sagen: halsbrecherischen –Wirtschaftswende-Kurs in der gesamten Unternehmenswelt zu verankern. Stattdessen fehlt dann für alles weitere, was es auch gebraucht hätte, das Geld: einen schnelleren Ausbau der Stromnetze und der öffentlichen Ladeinfrastruktur für E-Autos (und LKWs), allgemein bessere Investitionsbedingungen – oder auch nur ein paar hundert Millionen Euro extra etwa für die Deutsche Bahn, damit der hochsubventionierte grüne Stahl in den kommenden Jahren auch im Land verbaut wird.
Die Wirtschaftspolitik wird eines der Schlachtfelder des Wahlkampfs
Stattdessen gibt es Unsicherheiten für Unternehmen noch und nöcher: Welche Standards und Technologien gelten nun künftig, was wird noch gefördert und was nicht, wer bekommt noch Geld? Überhaupt produzierten die Subventionen für einige wenige eine Erwartungshaltung bei ganz vielen, sie hätten aber auch ein dringendes Anrecht auf Zuschüsse vom Staat. Was der Kanzler irgendwann trotzig mit dem Satz retournierte: „Die Klage ist des Kaufmanns Lied.“
Mit seiner erst besserwisserischen, später beleidigten Art hat es Scholz geschafft, einen vorneweg nicht grundfalschen Politikansatz zu diskreditieren. Und das Verhältnis zwischen Unternehmern und Managern auf der einen Seite und politischen Entscheidern auf der anderen Seite nachhaltig zu beschädigen. Vielleicht ist dies die eigentliche Gefahr für den Standort Deutschland: das ruinierte Vertrauen der Wirtschaft in die Lösungskompetenz der Politik – sie ist brisanter als hohe Steuern und Abgaben und eine überbordende Bürokratie. In der neuen Ausgabe von Capital widmen wir diesem Komplex eine große Geschichte, die Sie auch jetzt schon online lesen können.
Nach der Wahl am Sonntag wird – neben der Migration – die Wirtschaftspolitik das Schlachtfeld für den aufziehenden Bundestagswahlkampf. CDU-Chef Friedrich Merz machte diese Woche deutlich, dass er als Kanzler einen grundsätzlich anderen Politikansatz verfolgen werde: nämlich bessere Bedingungen für alle statt Privilegien für einige wenige. Die Erfahrungen der vergangenen drei Jahre, die dramatische Investitionszurückhaltung von Unternehmen und privaten Konsumenten, geben ihm Recht.
Aber die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Nur mit besseren Standortbedingungen für alle wird Merz die wichtigen Aufgaben im Strukturwandel der deutschen Industrie auch nicht vorantreiben können. Hiesige Chipproduktionen gegen die hochriskante Abhängigkeit von Taiwan und China; Batteriewerke, um die Wertschöpfung in der deutschen Industrie zu sichern; eine heimische Stahlproduktion, allein schon für die europäische Rüstungsindustrie (auch wenn das nicht schön ist) – all dies bleibt richtig, ebenso wie mehr öffentliche Investitionen in wichtige Infrastrukturen. Nur mit weniger Bürokratie, geringeren Steuern und sauberer Ordnungspolitik wird Merz dies nicht erreichen.
Dennoch hat Merz in der anstehenden Auseinandersetzung mit Scholz einen großen Vorteil – weil Scholz diese wichtigen Aspekte der Wirtschaftspolitik nun drei Jahre sträflich vernachlässigt hat. Dass auch sein Ansatz nicht reichen wird, um im internationalen Standortwettbewerb mitzuhalten, muss Merz erst kümmern, wenn er wirklich das Kanzleramt übernimmt.