Henning Vöpel ist Direktor und Geschäftsführer des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Jörn Quitzau ist Volkswirt bei der Berenberg Bank.
Die Europäische Union steckt in der Krise. Spätestens seit dem Brexit-Votum suchen Politiker fieberhaft nach einer Antwort auf den europapolitischen Schock. Manche fürchten, die Krise könne eine solche Dynamik entfalten, dass die EU am Ende in ihre Einzelteile zerbricht. Andere hingegen träumen davon, die Gunst der Stunde nutzen zu können, um die EU endlich von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat („United States of Europe“) weiterzuentwickeln. Als echte politische Union hätte die EU dann die nötigen Instrumente zur Hand, um die immer wieder auftretenden Verspannungen in Europa dauerhaft lösen zu können. Wir halten diese beiden Extreme – Zerfall der EU und Vollendung der Europäischen Union – für wenig wahrscheinlich, sondern erwarten pragmatische Lösungen, bei denen „Clubs der Willigen“ die Integration weiter vorantreiben.
Unstrittig ist, dass Europa aus dem Krisenmodus herauskommen muss. Den richtigen Weg zu finden, setzt aber zunächst Klarheit darüber voraus, zu welchem Ziel dieser Weg führen soll und welche der aktuellen Schwierigkeiten überhaupt hausgemacht und dementsprechend von der Europäischen Union lösbar sind. Tatsächlich resultieren einige Probleme unserer Zeit aus Entwicklungen, die von der EU nicht oder nur sehr begrenzt zu verantworten und von ihr auch kaum steuerbar sind. Dazu gehört etwa die Bevölkerungsalterung in vielen Industrienationen, die Globalisierung und die Digitalisierung mit all ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen.
Die Europäische Union kann diese Phänomene nur politisch gestalten, stoppen kann sie sie nicht. Um es zuzuspitzen: Großbritannien kann sich zwar aus der EU verabschieden, aber den Auswirkungen von Alterung, Globalisierung und Digitalisierung wird sich Großbritannien dennoch nicht entziehen können. Die politischen und gesellschaftlichen Spannungen auch in Ländern außerhalb Europas zeigen zudem, dass die EU kaum die Alleinschuld an allen behaupteten oder tatsächlichen Missständen unserer Zeit haben kann.
Lissabon-Strategie ist gescheitert
Neben diesen exogenen Faktoren gibt es aber auch hausgemachte Probleme. Bei ihnen hat die EU durch einen Politikwechsel Aussicht auf Erfolg. So resultieren aus unserer Sicht viele Schwierigkeiten aus einer zu schnellen Integration. Das prominenteste Beispiel ist sicher der Beitritt Griechenlands zur Europäischen Währungsunion. Hätten sich die politischen Entscheidungsträger Zeit gelassen, bis Griechenland die fiskalischen Beitrittskriterien erfüllt und sich wirtschaftlich an die übrigen Euro-Teilnehmerländer angenähert hat, wäre uns die Eurokrise erspart geblieben. Gründlichkeit sollte deshalb künftig den Vorrang vor Schnelligkeit haben.
Auch überambitionierte Zielsetzungen wie die Lissabon-Strategie, mit der Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt werden sollte, sind kontraproduktiv. Die Lissabon-Strategie ist spektakulär gescheitert, denn 2010 überzeugte Europa nicht durch Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Dynamik, sondern kämpfte gegen die griechische Staatsschuldenkrise und den Zerfall der Währungsunion. Mit derart verfehlten Zielsetzungen untergräbt die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit. Ein Verlust an Vertrauen in europäische Institutionen ist seit einigen Jahren die Folge dieser Politik.
Europa braucht schlagkräftige Institutionen
Es gibt eine Reihe von Ansatzpunkten für ein „besseres“ Europa. Dem Subsidiaritätsprinzip fällt dabei eine entscheidende Rolle zu: Europäische Lösungen braucht es nur dort, wo Probleme nicht vor den nationalen Grenzen halt machen, also beispielsweise beim Klimaschutz und bei der Finanzmarktstabilität. In allen anderen Fällen sind politische Entscheidungen vor Ort auf der Ebene von Bund, Ländern oder Gemeinden zu bevorzugen. Durch eine klarere Aufgabenverteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip stiege die Akzeptanz beim Bürger. Dazu gehört aber natürlich auch, dass Europa schlagkräftige Institutionen braucht, die in der Lage sind, grenzüberschreitende Problemlagen erfolgreich zu bekämpfen.
Unter dem Druck der Eurokrise wurden viele Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet. Gleichwohl wäre es besser gewesen, wenn schon bei Einführung des Euro eine Institution wie der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) existiert hätte, die über die Mittel verfügt, eine Massenpanik an den Märkten einzudämmen. Stattdessen wurden die institutionellen Fehlkonstruktionen aufgedeckt, die letztlich eine ernste Legitimationskrise heraufbeschworen haben, weil immer häufiger provisorische Ad-hoc-Lösungen – wie etwa die Ausdehnung des geldpolitischen Mandats der Europäischen Zentralbank – statt nachhaltiger Stabilitätspolitik durchgesetzt wurden.
„Club der Willigen“
Ein besonderes und positives Merkmal der Europäischen Union ist die Vielfalt der Länder. Für den europäischen Einigungsprozess ist es aber zuweilen hinderlich, wenn wegen der Vielfalt kein Konsens über bestimmte Fragen herstellbar ist. Doch Stillstand ist keine Option, wenn in wichtigen Fragen partout kein Konsens erreicht werden kann. Wir sehen deshalb in einer „Koalition der Willigen“ eine gute Möglichkeit, die Integration voranzutreiben. Länder, die noch nicht so weit sind, können vorübergehend oder dauerhaft außen vor bleiben.
Wir haben mithilfe einer Cluster-Analyse fünf Gruppen von EU-Mitgliedsstaaten identifiziert, die wegen bestehender Gemeinsamkeiten in ihrer Interessenlage eine vertiefte Zusammenarbeit möglich machen könnten. Ein pro-europäisches Cluster bilden dabei Belgien, Deutschland, Österreich, Frankreich und Spanien. Ein anderes Cluster, bestehend aus Großbritannien, Dänemark, Finnland, Irland, Schweden und den Niederlanden, steht hingegen eher für nationale Freiräume und für Skepsis gegenüber einer EU-Vertiefung. Ein solcher „Club der Willigen“ könnte als Integrationslokomotive die Lethargie Europas überwinden und neue Dynamik erzeugen, die gleichzeitig positive Anreize zur Nachahmung setzt.
Insgesamt erwarten wir also, dass sich der Einigungsprozess verlangsamt und dass es pragmatische Fortschritte von „Clubs der Willigen“ geben wird. Eine solche Lösung passt auch viel besser zur europäischen Realität, als es die verhärteten europapolitischen Fronten mit ihrem Schwarz-Weiß-Raster vermuten lassen. Die Bürger Europas sind weniger polarisiert, als es die aufgeheizte Stimmung suggeriert. Das Eurobarometer der EU-Kommission liefert aufschlussreiche Erkenntnisse: Auf die Frage, ob die EU ein positives oder negatives Bild hervorruft, antwortete die Mehrheit der Befragten mit „weder noch“ (38 Prozent). 34 Prozent haben ein tendenziell positives und 27 Prozent ein tendenziell negatives Bild. Auch der sehr knappe Ausgang des britischen Referendums zeigt, dass Großbritannien nicht geschlossen gegen Europa ist. In europapolitischen Fragen wieder Grautöne zuzulassen, wäre deshalb ein erster Schritt – und es wäre ein sehr wichtiger Schritt.