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Analyse Was der Brexit für andere EU-Staaten bedeutet

Rechtspopulisten frohlocken und Regierungen zittern vor der Ausbreitung der Anti-EU-Viren.

Die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, hat Konsequenzen für ganz Europa – und stellt die Regierungen in Frankreich, Deutschland, der Niederlande und vor allem auch Nordeuropas vor Herausforderungen. Wie wird sich die politische Landkarte verändern?

Frankreich:

Das Votum der Briten für den Brexit sendet Schockwellen durch die Reihen der etablierten französischen Parteien. Denn die Angst ist groß, dass die Entscheidung knapp ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl der rechten Front National einen Schub verschafft. In den vergangenen zwei Jahren hat die Anti-Euro-, Anti-Immigrations-Partei bei Regional- und Europawahlen in der ersten Runde konstant den größten Anteil der Wählerstimmen eingesammelt.

Parteichefin Marine Le Pen dürfte es bei der Präsidentenwahl im Frühjahr 2017 in die Stichwahl schaffen – und sie hat im Zuge des britischen Referendums bereits angekündigt, dass sie auch die Franzosen über die EU abstimmen lassen will. Frankreich habe „tausend mehr Gründe zu gehen als das Vereinte Königreich“, hat sie am Dienstag in einem Fernsehinterview bekräftigt. Denn anders als Großbritannien sei Frankreich auch Teil der Eurozone und des Schengen-Abkommens – zwei supranationale Neuerungen, die in den vergangenen Jahren in schwieriges Fahrwasser geraten sind.

„Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, es zeigt, dass die EU im Niedergang ist, dass es Risse an allen Stellen gibt“, erklärte Le Pen vorauseilend. Brüssel sei „totalitär“ und die Integration müsse zurückgedreht werden, um wieder zu einem „Europa der Nationen“ zu gelangen.

Angesichts des Aufschwungs der Euroskeptiker hat auch der frühere Präsident Nicolas Sarkozy seine Anti-Brüssel-Rhetorik verstärkt. Denn der Politiker der Konservativen, der 2012 abgewählt worden war, würde ebenfalls gerne wieder in den Elysee-Palast einziehen.

Und ebenso sorgt sich der amtierende sozialistische Präsident François Hollande, dass die Entscheidung der Briten Ansteckungseffekte in seinem Land und der ganzen EU haben könnte. Er besteht deshalb darauf, dass das Brexit-Votum sehr schnell Konsequenzen für Großbritannien haben müsse – sonst könnten auch andere Länder in Versuchung geraten, in Brüssel neue Bedingungen aushandeln zu wollen. „Wenn wir die Konsequenzen herunterspielen oder minimieren, dann würden wir Europa in Gefahr bringen“, sagte ein französischer Diplomat. „Das Prinzip der Konsequenzen ist sehr wichtig, um Europa zu schützen.“

Deutschland:

Deutsche Regierungsvertreter sind überzeugt, dass mögliche Schocks an den Finanzmärkten in den nächsten Wochen gut abgefedert werden können. Und sie sind auch zuversichtlich, dass die deutschen Unternehmen mit den Folgen für die vielfältigen Handelsbeziehungen bewältigen werden. Großbritannien ist für die deutsche Wirtschaft der drittwichtigste Exportmarkt.

Anders sieht es auf der Ebene der Politik aus – was die EU insgesamt angeht und Deutschlands Rolle in der Gemeinschaft. Der Brexit könnte jahrelange Verwerfungen auslösen. Sorgen macht sich Berlin besonders über die Anti-EU-Stimmung im Herzen Westeuropas, in den Niederlanden und Frankreich. Die Integration der vergangenen Jahrzehnte steht womöglich in Frage.

EU-Vertreter wollen reagieren, indem sie die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten möglichst eng zusammenbringen und sich darum bemühen, ein wenig den Enthusiasmus für die Gemeinschaft wiederzubeleben. Insbesondere die Bereiche Sicherheit, Außenpolitik und Grenzkontrollen hat man sich ganz genau angesehen. Denn, so heißt es, unter den richtigen Voraussetzungen könnte man hier die Öffentlichkeit erreichen, die sich sowohl wegen der Terrorgefahr als auch dem Flüchtlingszustrom sorgt.

Allerdings gibt es da ein Problem: Angela Merkel hat die großen Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit – den globalen Finanzschock, die Rettung Griechenlands, den Ukraine-Konflikt und die Flüchtlingskrise – gemeistert, in dem sie Führung übernommen hat und Gefolgschaft erzwungen hat. Dies aber hat enorme Widerstände geschaffen: zum Beispiel in Südeuropa gegen die von den Deutschen propagierte Austeritätspolitik oder in Osteuropa in der Flüchtlingsfrage. Merkel hat ausreichend Verbündete an ihre Seite gebracht. Aber ohne Großbritannien schrumpft die Liste schwergewichtiger Partner. Die EU verliert einen seiner drei großen Mitgliedsstaaten, und zwar einen, der über viel diplomatische und militärische Erfahrung verfügt. Und einen, der seine Stimme für Marktorientierung erhebt.

Wenn Deutschland nun noch mehr Befehle erteilt als ohnehin schon, dann wird es sich noch schneller dem Vorwurf der Hegemonie aussetzen. Wenn es sich aber im Hintergrund hält, um nicht übermächtig zu erscheinen, riskiert es, ein politisches Vakuum zu schaffen. Das könnten andere ausfüllen, insbesondere die Nationalisten in Frankreich und anderswo.

Die Niederlande:

Wenn man Geert Wilders, dem Parteichef der rechtspopulistischen europafeindlichen PVV, glaubt, dann folgt dem Brexit der „Nexit“. „Ein Hurra für die Briten!“, twitterte Wilders, dessen Partei die Umfragen in Niederlande anführt, am Freitagmorgen. „Jetzt sind wir an der Reihe. Zeit für ein niederländisches Referendum!“

Schon vor der Abstimmung hat Wilders Zeitungen und Fernsehstationen abgeklappert und eine einfache Botschaft platziert: wie die Briten müssten auch die Holländer sagen dürfen, was sie von der EU halten. Nach dem Erfolg der britischen „Leave“-Kampagne wird dieser Ruf noch lauter ertönen, umso mehr als Anfang nächstes Jahr Parlamentswahlen stattfinden. „Eine Stimme für die (PVV) ist eine Stimme für ein Referendum über einen niederländischen Nexit“, so Wilders diese Woche.

Schon die Abstimmung der Niederländer über das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine im April, in der eine Mehrheit gegen die Vereinbarung votierte, hat der Regierung in Den Haag ein Problem verschafft. Die britischen Wähler haben ihr nun eines zweites, größeres Problem vor die Tür gelegt.

Nordeuropa:

Für Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden hatte Großbritannien seit langer Zeit eine Führungsrolle: in EU-Fragen, in Handelsangelegenheiten genauso wie in der Kultur oder beim Fußball. Experten glauben, dass der Brexit Schweden und Dänemark am stärksten treffen könnte. Die beiden Länder wie auch Finnland, werden bekräftigen, dass ihr Platz in der EU ist: „Ich gehe davon aus, dass der Ministerpräsident doppelt so deutlich macht, dass unser Platz in der EU ist, schon um den Populisten etwas entgegenzusetzen“, so ein hochrangiger dänischer Regierungsvertreter.

Populistische Parteien wie die Dänische Volkspartei und die Schwedendemokraten (SD) werden sicherlich versuchen, das britische Votum in ihrem Sinne auszuschlachten. Obwohl die Umfragen in Schweden eine deutliche Mehrheit für die EU zeigen, und auch in Dänemark die Befürworter vorne liegen, rechnen Politiker damit, dass ihre Bevölkerungen fragen werden, warum die Briten abstimmen durften, sie aber nicht. „Das könnte wirklich eine Büchse der Pandora sein“, so ein finnischer Minister.

Wie die Reaktion in den zwei Nicht-EU-Mitgliedern Norwegen und Island ausfallen wird, ist schwer vorherzusagen. Die norwegische Regierung hat Großbritannien in aller Deutlichkeit davor gewarnt, dem Beispiel Norwegens zu folgen und dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beizutreten. Dieses Modell sichert dem Land zwar den Zugang zum europäischen Binnenmarkt, aber im Gegenzug muss es einen hohen Beitrag zum EU-Haushalt zahlen und alle Immigranten aus der EU akzeptieren.

Gleichzeitig würden Norwegen und Island bei einem Beitritt Großbritanniens zum EWR ein Schwergewicht für diesen Kreis gewinnen. Eine Aussicht, die einen norwegischen Minister spötteln lässt: „Es ist schon merkwürdig genug, wenn ich, der ich ein Land mit fünf Millionen Einwohnern repräsentiere, mit Liechtenstein (dem dritten EWR-Mitglied) verhandeln muss. Stellen Sie sich einmal vor, wie das für Großbritannien wäre!“

Copyright The Financial Times Limited 2016

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