Jean-Pierre Lehmann ist emeritierter Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Business School IMD in Lausanne. Sein Spezialgebiet ist Asien.
Der Brexit hat etwas grundlegend Britisches. Einmal abgesehen vom Ergebnis der Abstimmung: Die Briten sind faktisch nie der EU beigetreten. Die Vorzüge der hoch gepriesenen Insellage – „splendid isolation“ – sind seit ihren Ursprüngen in der britischen Außenpolitik des 19. Jahrhunderts immer noch Teil der britischen DNA. Zumindest bei den 52 Prozent der Bevölkerung, die für den Austritt gestimmt haben.
Ein weiteres sehr britisches Phänomen sind die zwei Nationen in einem Land, sehr treffend beschrieben vom konservativen Staatsmann Benjamin Disraeli in seinem 1845 erschienenen Roman ‚Sybil’. Er schreibt: „Großbritannien besteht aus zwei Nationen, zwischen denen es keine Austausch und keine Sympathien gibt, die nichts über die Gewohnheiten, Gedanken und Gefühle des jeweils anderen wissen. Wie Bewohner zweier unterschiedlicher Planeten. Die Reichen und die Armen.“ Diese Trennung ist wirtschaftlicher Natur, spiegelt aber auch die Trennung nach Herkunft und Bildung wider. In der Brexit-Abstimmung haben Akademiker mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Wähler mit niedrigerem Bildungsniveau hingegen für den Austritt.
Die Zersetzung der EU scheint nun praktisch nicht mehr aufzuhalten. Das zeigt sich auch in anderer Hinsicht: Meinungsumfragen haben ergeben, dass bei einer Volksabstimmung in den sechs Gründungsstaaten der EU (Belgien, Niederlande, Italien, Frankreich, Deutschland und Luxemburg) zwischen 30 Prozent (Deutschland und Belgien) und 45 Prozent (Italien) für einen Austritt stimmen würden. Zu sagen, die EU sei nicht populär, ist also noch untertrieben! Dafür gibt es viele Gründe, aber zusammengefasst zeigen alle auf den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker.
Alt gegen jung
Natürlich geben auch viele nationale Regierungschefs ein Bild eintöniger Mittelmäßigkeit – nehmen wir als Beispiel Francois Hollande, der sich zur Zeit einer Zustimmung von elf Prozent der Bevölkerung „erfreut“. Aber nationale Regierungschefs können bei der nächsten Wahl abgewählt werden. Die Bürgerinnen und Bürger der EU sind zutiefst frustriert darüber, dass sie keine Kontrolle über diejenigen haben, die sie aus Brüssel regieren. Die Meinung in der Bevölkerung ist: Den Leuten in Brüssel traut man nicht, sie sind weit weg, leben in einer Blase und machen einen schlechten Job.
Der europäische Traum hat sich in Luft aufgelöst. An seiner Stelle steht ein komplexes, entrücktes, mit sich selbst beschäftigtes Bürokratie-Konstrukt, wie abgeschlossen hinter einem scheinbar undurchdringlichen Nebel. Wäre ich Brite, ich hätte für den Verbleib gestimmt, aber ohne jede Begeisterung.
Der Brexit veranschaulicht auch einige tiefgehende globale Trends. Die Autorin Cassie Werber schreibt in einem kürzlich im US-Nachrichtenportal Quartz erschienenen Artikel: „Für die jungen Briten ist der Brexit eine Tür, die sich schließt, und ein Zeichen dafür, dass Hetzkampagnen sich durchsetzen.“ In vielen Teilen der Welt altern Gesellschaften. Dabei häufen „die Alten“ gierig und egoistisch Privilegien an, ohne Rücksicht auf die nachfolgenden Generationen. An der Stelle sei mir die Anmerkung gestattet: Ja, ich bin selbst 70 Jahre alt – aber ich habe sieben Enkelkinder!
Betrachten wir die Resultate des Referendums in Großbritannien nach Altersgruppen, kommt man zu erschreckenden Einsichten: Während nur 20 Prozent der 18- bis 24jährigen für den Austritt gestimmt haben, waren es überwältigende 60 Prozent bei den über 65jährigen. Daraus folgt: Der Brexit ist ein triumphaler Sieg für die Herrschaft der Alten. Frei nach dem Motto: „Nach uns die Sintflut“. Dieses Phänomen der „Gerontokratie“ tritt auch in vielen Gesellschaften Asiens auf, besonders in Japan, aber auch in Korea, Taiwan und China.
Eine neue globale Finanzkrise zieht herauf
Der Brexit zeigt zudem einen wachsenden Trend der „Deglobalisierung“. Als die Globalisierung in den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer ihren Weg nahm, gab es zwei Annahmen:
1. Die Globalisierung würde weltweites wirtschaftliches Wachstum forcieren. 2. Das Wirtschaftswachstum würde die Kraft haben, alle Boote mitzunehmen und in den Erfolg zu treiben.
Die erste Annahme hat sich bis zur Finanzkrise 2008 gehalten. Seitdem sind Ökonomen und Politiker gleichermaßen der Auffassung, geringes bzw. stagnierendes Wirtschaftswachstum sei die neue Normalität. Die zweite Annahme war nie wirklich überzeugend: Einige Boote wurden in schwindelerregende Höhen getragen, einige blieben verlassen am Strand zurück, viele sanken.
Mit dem Brexit zieht am Horizont eine neue globale Finanzkrise herauf. Es gibt ein Wort, mit dem sich das Versagen der Globalisierung am besten beschreiben lässt: die mangelnde Einbeziehung von vielen – kurz, der Mangel an „Inklusion“. Ob das nun richtig ist oder nicht: Es verfestigt sich der starke Eindruck, die zunehmende Ungleichheit und mangelnde Einbeziehung von vielen Menschen habe ihren Ursprung darin, dass Globalisierung die Reichen bevorteilt und die Armen diskriminiert. Von diesem Eindruck hat die Austrittskampagne in Großbritannien profitiert - so wie sie vielen populistischen Bewegungen in anderen Teilen Europas nutzt, etwa dem Front National in Frankreich. Auch in anderen Teilen der Welt zeigt sich das, besonders im „Donald Trump Phänomen“ in den USA. Disraelis „Zwei Nationen“–Syndrom des 19. Jahrhunderts hält sich nicht nur in Großbritannien, sondern auch im Rest der Welt des 21. Jahrhunderts.
Dieses zeigt sich auch in der Einstellung gegenüber Immigranten und Flüchtlingen. Auch wenn es sich hier um unterschiedliche Gruppen handelt, werden sie in einen Topf geworfen. Insbesondere von denjenigen, die alle zuziehenden Fremden als Gefahr für den eigenen Job, niedrigere Löhne oder Kriminalität ansehen. Die Austrittskampagne von Boris Johnson und Nigel Farage hat die weit verbreiteten Bedenken gegenüber Klempnern aus Polen, Asyl suchenden Flüchtlingen aus Syrien und einem möglichen EU-Mitglied Türkei massiv thematisiert. Zieht die Zugbrücke hoch, bevor es zu spät ist!
Die EU ist keine "Union"
Ähnlich agieren andere populistische Parteien und Politiker in Europa, die den Zuzug von Einwanderern und Flüchtlingen als drohende Katastrophe zeigen. Auch in der Kampagne von Donald Trump ist dies ein mächtiges Thema. Tatsächlich sind Einwanderung und Flüchtlingsursachen nicht nur universell, sondern vielleicht auch am schwierigsten zu bewältigen. Man denke an die komplexen ökonomischen, kulturellen, ideologischen, emotionalen, politischen und geopolitischen Fragen, die dabei eine Rolle spielen.
Als Europa noch die Europäische Gemeinschaft war, gab es zwar beachtliche Fortschritte, einen gemeinsamen europäischen Markt zu entwickeln. Es ist aber nie gelungen, eine europäische Gemeinschaft im Sinne des Wortes zu schaffen. Auch, wenn das keine Überraschung ist: Jetzt, da es die EU gibt, zeigt der Brexit, dass die EU es genau nicht geschafft hat, eine „Union“ zu werden. Die Tendenz hin zu einem Zwiespalt in Europa hat sich nach der Einführung einer gemeinsamen Währung noch verstärkt. Sie gab den Anstoß zu Entwicklungen wie dem möglichen Grexit – auch wenn dort das Szenario weniger war, dass Griechenland austreten wollte, sondern dass das Land aus der EU ausgeschlossen werden sollte.
Der Brexit ist ein britisches und europäisches Phänomen. Zugleich hat er eine globale Dimension hinsichtlich seiner Konsequenzen, seiner Kraft zur Illustration und den Lektionen, die es zu lernen gilt. So wie die EU gescheitert ist, eine „echte“ Gemeinschaft zu schaffen, ist durch die Globalisierung zwar ein globalisierter Markt entstanden (wenn auch momentan mit zunehmenden Einschränkungen). Es hat sich aber keine globale Gemeinschaft entwickelt. Das „H“-Wort „Hass“ infiziert den Planeten. Zum Wohl der kommenden Generationen muss es von einem anderen „H“-Wort ersetzt werden – Humanismus. Humanismus zum vorherrschenden Prinzip des 21. Jahrhunderts zu machen, ist die eigentliche globale Herausforderung unserer Zeit.