Es ist mitten in der Nacht, als im Zentrum der Kleinstadt Reken ein lauter Knall ertönt. Es wird hell, Scherben fliegen bis auf die andere Straßenseite. Drei maskierte, schwarz gekleidete Männer rennen ins Erdgeschoss eines Klinkerbaus, kommen kurz darauf mit Taschen wieder heraus und steigen in ein wartendes Auto. Gefilmt hat die Szene ein Anwohner, anschließend landete das Video im Netz. Geschehen ist die Sprengung Anfang Januar in Reken im Münsterland.
Die Tat, bei der zwei Geldautomaten in einer Filiale der Sparkasse Westmünsterland gesprengt wurden, ist alles andere als ein Einzelfall – sie zeigt ziemlich genau, wie Bankräuber heute vorgehen. Sie überfallen keine Schalterhallen mehr, sondern räumen Geldautomaten leer. Und das ziemlich systematisch.
2022 hat die Zahl der Geldautomatensprengungen mit 496 Fällen laut Bundesinnenministerium einen „neuen Höchststand“ erreicht. Es gab 27 Prozent mehr Sprengungen als im Vorjahr, innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl mehr als verzehnfacht. Schon im November 2022 hatte sich die Deutsche Kreditwirtschaft, die Vertretung der Banken und Sparkassen, an einem Runden Tisch zu Präventionsmaßnahmen bereit erklärt. Doch nun denken Bund und Länder über gesetzliche Regelungen nach.
Das Bundesinnenministerium von Ministerin Nancy Faeser (SPD) sieht laut „Handelsblatt“ die Kreditwirtschaft in der Verantwortung die verabredeten Maßnahmen „schnell und konsequent umzusetzen“. Würde sich die Kriminalitätslage „nicht nachweislich und im erforderlichen Umfang verbessern“, seien gesetzliche Verpflichtungen erforderlich. Auch die ersten Innenminister der Länder haben sich dafür ausgesprochen.
Banken halten gesetzliche Regelungen aber für den falschen Ansatz. „Es ist schwer nachzuvollziehen, dass die alleinige Verantwortung für die Verhinderung von Sprengungen bei Banken und Sparkassen liegen soll“, teilte die Deutsche Kreditwirtschaft dem „Handelsblatt“ mit. Die Bargeldinfrastruktur zu sichern, gelinge nur im Schulterschluss mit Politik und Strafverfolgungsbehörden.
Täter fliehen mit 250 Kilometer pro Stunde
Was effektive Schutzmaßnahmen bewirken können, zeigt sich aber an der stark zurückgegangenen Zahl der Banküberfälle. Viele Banken haben ihre Schutzmaßnahmen über die Jahre verbessert und sich genau auf solche Taten eingestellt. Das Bankpersonal kann einen Alarm auslösen. Tresorräume mit Bargeld öffnen sich erst zeitverzögert, wodurch der Polizei mehr Zeit bleibt, einzugreifen. 2021 gab es nur noch 28 Banküberfälle.
Geldautomaten stehen hingegen auf Supermarktparkplätzen und neben dem Kiosk in der Seitenstraße, sind leicht zugänglich und nicht besonders gesichert. Zwischen zwei und fünf Uhr morgens, wenn die meisten Täter zuschlagen, sind hier kaum andere Menschen unterwegs. Unerkannt zu fliehen ist deshalb leicht – vor allem, wenn die Fluchtautos hochmotorisiert sind.
Der Mann, der Ende Februar 2022 in Hessen einen Geldautomaten in die Luft gejagt hat, flüchtet erst über die A2, dann die A30. Die Bielefelder Polizei ist an ihm dran, aber der Flüchtende nutzt sämtliche Fahrspuren inklusive des Standstreifens, erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern. Dann ist er über die niederländische Grenze, wo die dortige Polizei die Fahndung übernimmt. Die Strafverfolgung für die deutsche Polizei erschwert das erheblich.
Der Hauptgrund, warum die Täter so häufig entkommen können, seien die hohen Geschwindigkeiten, analysiert Detlev Boßbach, Kriminaldirektor beim Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen. „Die Täter agieren absolut skrupellos. Bei Fluchtgeschwindigkeiten von über 250 Kilometer pro Stunde kommt der Rechtsstaat an seine Grenzen, weil man ohne Gefährdung Dritter nicht eingreifen kann.“ Und in einem besonders stark betroffenen Bundesland wie NRW ist die niederländische Grenze nah.
NRW erlebt am meisten Sprengungen
Aus dem Nachbarland kommt ein Großteil der Täter. Amsterdam, Rotterdam und Utrecht gelten beim BKA als Zentren der organisierten Kriminalität – mehrere hundert Personen organisieren sich dort in kleinen Gruppen. In NRW stehen dazu mehr als 10.000 der bundesweit circa 65.000 Geldautomaten, Tatgelegenheiten gibt es also genug. 2022 war mit 182 Sprengungen ein Rekordjahr für NRW. Niedersachsen ist aufgrund seiner Grenznähe ebenfalls ein beliebter Tatort. Auch Hessen, Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg werden immer öfter angegangen – stets bandenmäßig organisiert.
Die Gruppenstruktur beschreibt Boßbach so: „Im Regelfall gibt es einen Logistiker, der Fahrzeug und Sprengstoff besorgt und eventuell den Tatort auskundschaftet. Dann gibt es immer einen Fahrer, zwei bis drei Sprenger und zwei Helfer. Diese Gruppen operieren unabhängig voneinander, tauschen sich aber aus.“ Dadurch könnten sie ihr Tatvorgehen immer mehr verbessern.
Die Sprengungen selbst werden professioneller – und gefährlicher. Kam ungefähr bis 2020 meist noch ein Gas-Luft-Gemisch zur Sprengung der Automaten zum Einsatz, sind es seither häufig neu verpresste Feuerwerkskörper mit einer wesentlich höheren Detonationskraft. So konnten die Bewohner eines Hauses in Essen-Kupferdreh 2022 nicht in ihre Wohnungen zurück, nachdem ein Geldautomat in der Bankfiliale im Erdgeschoss gesprengt worden war. Der Sohn eines betroffenen Bewohners erzählte der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ danach, sein Vater sei „durch die Explosion sprichwörtlich aus dem Bett gefallen“ und die Wände seien voller Risse.
Millionen an Beute und rechtlich kaum ein Gegenmittel
Die Sachschäden, die durch die Detonation an Gebäuden und umliegender Infrastruktur entstehen, liegen schätzungsweise in Millionenhöhe, ähnlich sieht es im Bezug auf das erbeutete Bargeld aus. 19,5 Mio. Euro wurden laut Bundeskriminalamt 2021 aus Geldautomaten gestohlen, 2,4 Mio. Euro mehr als im Vorjahr.
Bestraft wird so ein „Diebstahl im besonders schweren Fall“ mit Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und zehn Jahren. „Das klingt viel, aber die Strafmaße werden nur selten bis ganz nach oben ausgeschöpft“, erklärt Neubacher. „Die Mindeststrafe ist eigentlich viel wichtiger.“ Banküberfälle hingegen würden in der Regel nicht mit weniger als drei Jahren Haft bestraft, weil oft Waffen im Spiel seien. Kämen diese zum Einsatz, läge die Mindeststrafe sogar bei fünf Jahren.
Neubacher glaubt nicht, dass schärfere Strafen einen Effekt haben würden. „Damit Strafrecht wirklich abschreckend wirkt, müssten die Täter vor der Tat abwägen und sich mit der Strafdrohung vertraut machen. Solche Überlegungen werden meistens nicht angestellt und wenn doch, vertrauen sie darauf, dass sie nicht erwischt werden.“ Lieber solle man in Prävention investieren und die Automaten besser schützen.
Müssen Banken jetzt die Konsequenzen ziehen?
Die Polizei in NRW rät daher zum sogenannten Nachtverschluss: Die Vorräume von Bankfilialen sollten zwischen 23 Uhr und fünf Uhr unzugänglich gemacht und mechanisch gesichert werden. Für freistehende Automaten bleiben Geldentwertungssysteme. „Wir wissen natürlich, dass die Täter am Ende des Tages das Bargeld haben wollen“, sagt Boßbach. „Wenn es verklebt oder verfärbt ist, ist es fast unmöglich es in Umlauf zu bringen.“
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) fordert von Geldautomatenbetreibern und -herstellern genau durch solche Maßnahmen, wie die Vernebelungstechnik, Einfärbe- oder Klebesysteme für mehr Sicherheit zu sorgen. Die Bundesbank hat den Einsatz der Verklebetechnik in Deutschland kürzlich erlaubt. Auch das Bundesinnenministerium prüft derzeit die Empfehlungen für Sicherungs- und Präventionsmaßnahmen.