Margrethe Vestager habe unbezahlten Urlaub beantragt, teilte die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Dienstagabend mit. Die Ankündigung kommt nicht überraschend. Vor der Sommerpause bekundete die Dänin ihr Interesse für die Nachfolge von Werner Hoyer an der Spitze der Europäischen Investitionsbank (EIB). Nun wurde sie von der dänischen Regierung offiziell als Kandidatin für die Präsidentschaft der EIB nominiert.
Sie war eine der bekanntesten EU-Politiker, galt als eine der mächtigsten Frauen in Europa. 2019 wurde die liberale Politikerin sogar als mögliche Kommissionspräsidentin gehandelt. Doch in dieser Legislatur verschwand Vestager zunehmend von der europäischen Bühne.
Fast zehn Jahre lang leitete die 55-jährige Vestager die Geschicke der europäischen Wettbewerbsbehörde. Noch unter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker begann sie gegen die Steuerarrangements der EU-Mitgliedstaaten vorzugehen und der Steuerflucht von Großkonzernen ein Ende zu setzen. Vestager leitete Verfahren gegen Niedrigsteuerländer wie Luxemburg, Irland und die Niederlande ein und verdonnerte Unternehmen wie Amazon, Starbucks und Apple zu hohen Steuernachzahlungen. Die Idee mithilfe der EU-Beihilferegeln gegen Steuervergünstigungen vorzugehen. stammte noch von ihrem Vorgänger. Vestager allerdings setzte sie in die Praxis um.
Milliardenstrafen gegen Google
Auch als Kartellrechtskämpferin legte sich Vestager mit mächtigen Großkonzernen an. Beispiel Google: 2018 verhängte die Dänin eine Rekordstrafe von 4,3 Milliarden gegen das US-Unternehmen. Ihr Vorwurf: Mit seinem Betriebssystem Android missbrauche der Konzern seine marktherrschenden Stellung. Es ist die höchste Strafe, die jemals gegen ein einzelnes Unternehmen gesprochen wurde und nicht einmal die erste Milliardenstrafe, die Vestager gegen den Konzern verhängte. Bereits 2017 musste Google 2,42 Milliarden Strafe bezahlen. Beide Male zog der US-Konzern gegen Vestagers Bußgeld vor Gericht und verlor.
Ihr hartes Vorgehen handelte Vestager den Beinamen „Eiserne Lady“ ein. Warf die EU-Kommissarin einem Unternehmen Machtmissbrauch vor, war klar: Sie meint es ernst. Vestager legte sich mit dem russischen Konzern Gazprom an, verhängte ein Bußgeld von 570 Millionen gegen Mastercard und leitete Kartellverfahren gegen Amazon und Apple ein.
„Wir Dänen sind direkt. Wir sind nicht immer so höflich“, sagte Vestager 2015 dem „Times Magazin“. Damit machte sie sich nicht immer beliebt. Sie hasse die USA, warf ihr der ehemalige US-Präsident Donald Trump vor. Ihr Vorgehen gegen Apple‘s Steuerpraktiken sei „politischer Mist“ beklagte sich dessen Chef Tim Cook. Die Kommissarin mache „für Europa alles falsch“ schimpfte Siemens-Chef Joe Kaeser, als Vestager sich 2019 der Fusion von Alström und Siemens entgegensetzte.
Vestagers Vorgänger, der spanische Kommissar Joaquín Almunia, ging deutlich sanfter mit großen Konzernen ins Gericht. Seine Untersuchungen gegen Unternehmen endeten zumeist mit einer Einigung hinter verschlossenen Türen. Nicht Vestager. Lud sie zur Pressekonferenz, war der Saal meist voll. Ihre Ankündigungen wurden mit Spannung erwartet. Die Frage gegen wen die EU-Kommissarin nun vorgehe, lag in der Luft. 2019 war die Dänin auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die Liberalen setzen in sie die Hoffnung, den Posten der Kommissionspräsidentin zu stellen.
Zuletzt wurde es still um Vestager
Doch Vestager baute sich ihr Vermächtnis vor allem unter Jean-Claude Juncker auf. In letzter Zeit machte sich die einst stärkste Frau in Brüssel immer rarer. Unter Kommissionspräsidentin Von der Leyen haben sich die Machtverhältnisse innerhalb der Europäischen Kommission verändert. Vestager erhielt zwar den Titel der „Exekutiven Vizekommissarin“, verschwand aber zunehmend von der politischen Bühne. Vielleicht wurde sie auch von dieser verdrängt. Nicht Vestager, sondern der charismatische Franzose Thierry Breton ist das Gesicht der wichtigsten digitalen Gesetzesvorstöße dieser Legislatur, wie dem Digital Marktets Act und dem Digital Services Act. Beide dienen dazu, die Macht der digitalen Plattformen einzudämmen.
Außerdem fuhr Vestager in den letzten Jahren gleich mehrere peinliche Niederlagen ein. Die EU-Gerichte kippten ihre Steuerentscheidungen gegen Amazon, Apple und Fiat. Die Konzerne mussten letztlich doch keine Steuern nachzahlen, Vestagers Versuch mithilfe der EU-Beihilferegeln gegen Steuervergünstigen zugunsten von Großkonzernen vorzugehen, scheiterte. Einen weiterer Rückschlag kassierte die EU-Kommissarin im Juli. Ihre Entscheidung, die Amerikanerin Fiona Scott Morton zur Chefvolkswirtin der EU-Wettbewerbsbehörde zu berufen, sorgte für Kritik. Scott Morton hat in der Vergangenheit als Beraterin für jene Konzerne gearbeitet, die sie als Chef-Ökonomin künftig überwachen sollte. Die Amerikanerin verzichtete letztlich auf den Job, das Debakel schadete Vestagers Ruf.
Kurz vor den Europawahlen ist Vestagers Profil verblasst. Eine Chance auf die Kommissionspräsidentschaft räumt ihr heute sicherlich niemand mehr ein. Der Vorsitz der EIB ist womöglich die Chance auf einen eleganten Rückzug vor den kommenden Europawahlen.
In der Zwischenzeit übernimmt die Tschechin Vera Jourová die Lenkungs- und Koordinierungsverantwortung für die digitalen Dossiers, während der Belgier Didier Reynders die Wettbewerbsdossiers übernimmt. Große Ankündigen sind so kurz vor Legislatur-Ende keine mehr zu erwarten. Mit Justizkommissar Didier Reynders hat Ursula von der Leyen zudem einen ihrer schwächeren Kommissare zum Wettbewerb-Chef ernannt. Bei seinem wichtigsten Dossier dieser Legislatur, dem Lieferkettengesetz, stellte ihr die Kommissionspräsidentin auf halber Strecke Thierry Breton zur Seite. Reynders Vorschlag hätte Unternehmen zu sehr in die Pflicht genommen. In diesem Sinne ist von Reynders kaum ein strenges Vorgehen gegen den Machtmissbrauch von Konzernen zu erwarten.
Die Ernennung Vestagers zur Präsidentin der Europäischen Investitionsbank ist allerdings keineswegs ein Selbstläufer. Vestager muss sich gegen die spanische Wirtschafts- und Finanzministerin Nadia Calviño durchsetzen, die durch ihr Amt zu den Gouverneuren der Bank gehört. Die erste Aussprache der Finanzminister der EU zur künftigen Führung der Bank findet kommende Woche statt. Mit einer Entscheidung ist dann allerdings noch nicht zu rechnen. Schafft es Vestager nicht an die Spitze der EIB, kann sie ihr Amt als EU-Kommissarin wieder aufnehmen.
Der Beitrag ist zuerst bei stern.de erschienen