Es ist kein besonders wohlwollender Erfahrungsbericht, den Praveen Seshadri über seine Zeit bei Google verfasst hat. In den drei Jahren habe er live mitbekommen, „wie ein einst großartiges Unternehmen langsam aufhört, zu funktionieren.“
Seshadri hat seine Softwarefirma AppSheet im Jahr 2020 an Google verkauft, als Angestellter dort weitergearbeitet – und vergangenen Monat schließlich frustriert gekündigt. Sein Blog-Beitrag über die Gründe für seinen Absprung ist in der US-Techblase inzwischen viral gegangen.
Mitarbeiter frustriert über Behäbigkeit
In dem Artikel zeichnet Seshadri das Bild eines behäbigen Giganten, der zu sehr von seinem eigenen Erfolg berauscht ist, um sich auf disruptive Ideen einzulassen. Zwischen den üppigen Benefits und Boni, die sich Google dank seiner sprudelnden Werbeerlöse leisten kann, habe sich eine innovationsfeindliche Kultur eingeschlichen, die da lautet: bloß nichts aufrühren.
„Risikominderung hat Vorrang vor allem anderen“, schreibt Seshadri. Allein um eine Zeile Programmcode zu ändern, müssten Entwickler teils zig Genehmigungsschlaufen absolvieren. „Wie Mäuse sind sie gefangen in einem Labyrinth aus Genehmigungen, Einführungsprozessen, rechtlichen Überprüfungen, Leistungsüberprüfungen“ und anderen bürokratischen Strukturen.
ChatGPT legt Schwächen offen
Seshadri ist mit seiner Klage über die Konzernisierung von Google nicht allein. Auch andere ehemalige Top-Leute haben deswegen schon frustriert hingeschmissen, darunter Noam Bardin, Gründer der Google-Tochter Waze. Bis vor kurzem fiel die Trägheit nach außen nur kaum auf.
Mit seiner Suchmaschine hält Google schon seit Jahren einen Marktanteil von 90 Prozent. Angesichts der üppigen Pandemie-Umsätze schien es so, als könne sich das Unternehmen seine Behäbigkeit auf manchen Gebieten auch durchaus leisten. Doch seit Microsoft seine Suchmaschine Bing mit dem KI-Assistenten ChatGPT wiederbelebt hat, wirkt der Marktführer angeschlagen.
Mehr noch: Googles fahrige Reaktion auf ChatGPT und die pannenreiche Vorstellung seines eigenen KI-Assistenten Bard erwecken den Eindruck eines in die Jahre gekommenen Innovators, der nun selbst überrundet wird.
Dilemma des Innovators
In der Wirtschaftslehre gibt es eine Bezeichnung für das, was sich gerade bei Google abspielt: Es heißt das „Innovator’s Dilemma“. Der ehemalige Harvard-Professor Clayton Christensen hat das „Innovator’s Dilemma“ erstmals in seinem gleichnamigen Buch von 1997 beschrieben. Seitdem ist sein Werk zur Manager-Bibel des Silicon Valleys avanciert, auch dank bekennender Fans wie Apple-Gründer Steve Jobs und Amazon-Macher Jeff Bezos.
Christensen erklärt darin, warum erfolgreiche Unternehmen häufig dazu neigen, innovationsfeindliche Entscheidungen zu treffen – und so ungewollt zu ihrem eigenen Untergang beitragen.
Der Grund: Unternehmen seien so sehr auf bewährte Erfolgsformeln fixiert, dass sie für mögliche Disruptionen blind werden. Und selbst wenn sie diese erkennen, haben Manager oft keinen Anreiz, danach zu handeln. Denn ein neues Produkt könnte ja schließlich die Erträge im Kerngeschäft gefährden. Wenn die Gefahr dann spürbar wird, ist der Untergang meist schon besiegelt.
Harvard-Ökonom Christensen liefert allerdings auch eine Lösung für das Innovator’s Dilemma: Er rät Unternehmen, kleine und agile Beiboote zu schaffen, die außerhalb der großen Konzern-Tanker an Innovationsprojekten arbeiten.
Google hat sich vorbereitet
Es ist wohl davon auszugehen, dass die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin das Standardwerk von Christensen gelesen haben. Denn um das Innovator‘s Dilemma zu umgehen, haben sie bei Google über die Jahre einige kostspielige Vorkehrungen getroffen.
Eine dieser innovationssichernden Maßnahmen war das 20-Prozent-Projekt: Page und Brin haben ihre Mitarbeiter in den Anfangsjahren dazu ermutigt, 20 Prozent ihrer Arbeitszeit mit eigenen Projekten zu verbringen. Der Freiraum sollte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu neuen Ideen inspirieren und so auf das Unternehmen einzahlen – mit Erfolg. Einige erfolgreiche Produkte von Google sind in solchen Nebenprojekten entstanden, etwa der Nachrichtenaggregator Google News, der Werbedienst Adsense oder das das KI-Forschungslabor Google Brain.
Inzwischen existiert die 20-Prozent-Regel jedoch wohl nur noch in der Theorie. Angesichts von Genehmigungsketten und Leistungserfassung könne man sich solche Freiräume kaum noch einrichten, berichteten Mitarbeiter bereits 2013 in einem Artikel der Nachrichtenseite Quartz. Das einst agile Start-up ist selbst zu einem Tanker geworden.
Pionier tritt in Innovationsfalle
So ist wohl auch zu erklären, warum Google bei ChatGPT in die Innovationsfalle getappt ist. Google hat das Thema Künstliche Intelligenz eigentlich sehr früh erkannt. Der bahnbrechende Transformer-Ansatz, auf dem heutige KI-Assistenten wie ChatGPT aufsetzen, stammt aus dem Google Brain Lab. Das Unternehmen ist nicht nur Pionier in der Theorie, es hat in seinen Laboren auch selbst ein mächtiges Sprachmodell namens LaMDA gebaut.
Bisher zum Frontalangriff von Microsoft und dessen KI-Tochter OpenAI hat Google jedoch gezögert, sein KI-Sprachmodell der Welt vorzuführen. Die Gründe sind offensichtlich: Google hat dadurch viel mehr zu verlieren als zu gewinnen.
Zum einen besteht das Risiko, dass sich die Qualität der Suchmaschine zunächst verschlechtert, weil die KI-Modelle noch nicht ausgereift sind und häufig falsche Fakten präsentieren. Zum anderen ist unklar, ob KI-Sprachmodelle jemals auch nur annähernd so profitabel werden wie Googles Such-Anzeigengeschäft.
Braindrain bei KI-Abteilung
Eine Folge von Googles Trägheit zeichnet sich jetzt schon ab: Einige der besten Leute auf dem Gebiet Künstliche Intelligenz sind in den vergangenen Monaten zur Konkurrenz übergelaufen.
Laut einem Bericht des Online-Magazins The Information war der schnelle Start von ChatGPT im November nur möglich, weil die Mutterfirma OpenAI in den Monaten davor mindestens fünf KI-Experten von Google abgeworben hat, die wiederum maßgeblich zu dem Chatbot beigetragen hätten. Der Braindrain hält seit der Vorstellung von ChatGPT offenbar weiter an. Nach Angaben von The Information habe OpenAI seitdem mindestens vier fünf weitere KI-Spezialisten abgeworben.
Ist das also der Anfang vom Ende des Google-Monopols? Noch gibt es zumindest Auswege aus dem Dilemma. Selbst scharfe Google-Kritiker wie Praveen Seshadri trauen dem Unternehmen zu, sich noch einmal zu erneuern. „Google hat noch eine Chance, und ich werde sie anfeuern“, schreibt der Ex-Googler in seinem Blog-Post.