Lange Zeit hieß es, das erste Opfer eines Krieges sei die Wahrheit. Das ist vorbei. Die Wahrheit ist in der Ukraine schon lange vor dem Krieg gestorben, den es ja nicht einmal offiziell gibt – Russland sagt selbst, es sichere vielmehr den „Frieden“. Die Wahrheit wird also einmal nicht durch eine einfache Lüge ersetzt, sondern durch wochenlanges Theater, durch eine inszenierte Krise, erfundene Bedrohungen, Umkehrungen und Umdeutungen – eine kühl choreografierte Propaganda also, an deren Ende aus einer Teilannexion der Gebiete eines souveränen Staates eine „Friedenssicherung“ wird.
Wir werden dieser Tage Zeuge eines der bizarrsten und zugleich gefährlichsten geopolitischen Drehbücher, das Europa neu herausfordert, weil es beliebig oft wiederholt werden kann, in der gesamten Ukraine, aber auch in anderen Staaten: Man erfindet eine Krise bis hin zu einem „Genozid“, erkennt dann die Territorien als unabhängige Staaten an, die es als „Freund“ fortan zu beschützen gelte.
Eine neue Form eines eiskalten, hybriden Krieges
„Putin hat gerade Kafka und Orwell in den Schatten gestellt“, sagte die litauische Premierministerin Ingrida Šimonyte am Montag treffend. „Der Fantasie eines Diktators sind keine Grenzen gesetzt, kein Tiefpunkt zu tief, keine Lüge zu unverhohlen, keine rote Linie zu rot, um sie zu überschreiten. Was wir heute Abend erlebt haben, mag für die demokratische Welt surreal erscheinen. Aber die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, wird uns für die kommenden Generationen prägen.“
Es ist kein heißer, auch kein kalter Krieg, den Russland hier betreibt. Es ist eine neue Form eines eiskalten, hybriden Krieges, bei dem es nicht einmal eine offizielle Kriegserklärung geben muss, weil man in eben mal erfundenen Staaten mit Soldaten nur den „Frieden sichert“ und ihnen „Beistand“ bietet, mit Hilfe von „Verträgen über Freundschaft“.
Insofern ist das Vorgehen Russlands auch kein bloßer Rückfall in die Logik des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Architektur der europäischen Großmächte kannte immerhin die klassischen Kategorien von Krieg und Frieden und spielte nach diesen Regeln. Und bei territorialen Einverleibungen, etwa den „Polnischen Teilungen“ zwischen Russland, Preußen und Österreich-Ungarn, wurde auch nicht der Schein gewahrt oder umgedeutet, was diese Handlungen waren: Annexionen durch große und starke auf Kosten kleinerer und schwächerer Staaten.
Die Nato hat wieder eine Aufgabe
Wladimir Putin, der seit Wochen die Welt in Atem hält und sämtliche Staatsführer und Präsidenten vor Rätsel gestellt hat – nachdem er sie an seinem absurd langen Tisch empfangen hatte –, hat sich nach 2014 das zweite Mal dazu entschieden, Grenzen völkerrechtswidrig zu verletzen. Wir dürfen nicht mehr hoffen, dass er damit Ruhe gibt.
Seine Motive sind oft beschrieben worden: das Ende der Sowjetunion als Urkatastrophe, die Neuverhandlung des Endes des Kalten Krieges, der Wunsch, die europäische Sicherheitsarchitektur zu untergraben und umzubauen – und die Welt sicher für Autokraten zu machen. Kein Land in Osteuropa kann sich mehr sicher fühlen. Allein die Nato-Mitgliedschaft bietet ein Schutzschild, ein fragiles indes, dessen Preis nun in die Höhe getrieben wurde. Die vor wenigen Jahren noch als „hirntot“ beschriebene Nato hat wieder einen Imperativ, eine Aufgabe: die Reste der Friedensordnung von 1990 zu bewahren.
Und man muss sich keine Illusionen machen, was Putin mit der Ukraine, die er als erfundenes Marionetten-Regime des Westens brandmarkt, als Ganzes vorhat. In seiner Rede sprach er erneut über die Geschichte der ukrainischen Staatlichkeit, deren Unabhängigkeit er als Fehler ansieht, weil sie ein Produkt der Sowjetunion sei. Putin muss nicht einmal sofort handeln und etwa in Kiew „den Frieden sichern“. Er kann nun wieder warten und jederzeit eskalieren. Die Blaupause hat er geschaffen, Russland bleibt ein Paria-Staat auf Abruf.
Russland ist bereit, einen hohen Preis zu zahlen
Der Westen, der mit seiner „erpresserischen“ Sanktionspolitik angeblich Russland in seiner Existenz bedroht, bleibt dem gegenüber leider ohnmächtig. Ist das nun die „minor incursion“, von der US-Präsident Joe Biden vor einigen Wochen schon fatalerweise sprach, nur der „kleine Überfall“? Man sollte nicht darauf hoffen. Die erste Welle der Sanktionen wird Putin nicht von seinem Masterplan abbringen. Russland ist bereit, den Preis zu zahlen, den der Westen genannt hat.
Es wirkt oft zynisch, wenn man über Geld oder Energie spricht, wenn Menschenleben in einem Land bedroht sind. Aber Deutschland muss es tun: Unser Land, das mit seiner Diplomatie in Moskau einerseits eine gewichtige, in Bezug auf die Ukraine aber eine klägliche Rolle gespielt hat, steht an einem Nullpunkt, an dem es nicht nur seine Rolle in der Sicherheitspolitik Europas und der Nato neu justieren, sondern seine Energieversorgung überdenken und neu aufstellen muss. Nord Stream 2 ist seit Montagnacht hirntot.