Ist alles wieder wie früher? Fast sah es so aus, als in der vergangenen Woche in Venedig zum 79. Mal die berühmten Filmfestspiele stattfanden: Der rote Teppich war gesäumt von Fans und gespickt mit Stars wie Brad Pitt, Colin Farrell, Harry Styles, Brendan Fraser, Timothée Chalamet oder Cate Blanchett. Die Schauspieler und ihre Regisseure versuchten sich eine gute Startposition zu sichern im Rennen um die Oscars, die im März vergeben werden.
Und gewonnen haben Filme für das Kino: Laura Poitras‘ Dokumentation „All the Beauty and the Bloodshed“ über die Künstlerin Nan Goldin und ihren Kampf gegen den US-Industriellenclan Sackler. Aber auch ein Film wie „The Banshees of Inisherin“, für den Colin Farrell den Darstellerpreis einheimste: Ein Film, der sichtbar für ein Kinopublikum gemacht wurde, mit seinen opulenten Bildern von einer wind- und wetterumtosten Insel vor der irischen Atlantikküste.
Die weltweite Coronapandemie hat die Filmbranche verändert wie seit Jahrzehnten nicht. Und bei Festivals wie in Venedig konnte man das in den vergangenen Jahren gut beobachten. Die Hollywood-Studios verzichteten schon vorher mehr und mehr darauf, ihre Stars und ihre Filme zu den Festivals in Europa zu schicken – als das Virus kam, endete das vollends, nicht nur wegen der Reisebeschränkungen. Fans waren wegen des Infektionsrisikos unerwünscht, vor dem roten Teppich war deshalb sogar eine Absperrwand errichtet. Und das Programm wurde mehr und mehr von Filmen bestimmt, die für Bildschirme und nicht für die große Leinwand erschaffen wurden.
Das Kino lebt noch
Schon eineinhalb Jahre vor Corona hatte hier mit Alfonso Cuaròns „Roma“ erstmals eine Netflix-Produktion ein großes Festival gewonnen. Es war der Durchbruch bei dem Unterfangen der Streamer, sich endlich auch in der großen Filmwelt Respekt zu verschaffen. Und Venedig – anders als die schroff ablehnende Konkurrenz in Cannes und die hin- und her lavierende in Berlin – hatte den Streamern diese Tür von Beginn an weit geöffnet. Als dann während Corona die Kinos schlossen und alle Filmliebhaber zu Hause an ihre Bildschirme gefesselt waren, begann sich diese Strategie auszuzahlen. Die großen und bewegenden Stoffe, so schien es, wurden ohnehin nur noch für den Vertrieb über Abo-Plattformen produziert. Venedig hatte die Stars auf dem roten Teppich (nämlich die der Streamer immerhin), während Cannes und Berlin immer mehr darauf verzichten mussten.
Da konnte man auf den ersten Blick dieses Jahr schon auf eine überraschende Wiederkehr der alten Kinowelt wetten. Nicht nur die Gewinner des Festivals, gerade einige Filme, die jetzt schon als Oscar-Kandidaten gehandelt werden, waren Kinoproduktionen. „The Whale“ etwa von Darron Arronofsky, wo Brendan Fraser einen schwer übergewichtigen Amerikaner spielt, der seine lange vernachlässigte Tochter (Sadie Sink) wiedertrifft. Oder „The Son“, der zweite Film von Florian Zeller, der mit dem Demenzdrama „The Father“ im vergangenen Jahr beim Oscar den Drehbuchpreis und den Hauptdarstellerpreis (für Anthony Hopkins) gewann. Auch „The Son“ ist wieder mit Stars besetzt neben – wieder – Hopkins spielen Hugh Jackmann, Laura Dern und Vanessa Kirby. Behauptet sich also das Kino gegen Streaming?
Auch wer auf den weltweiten Markt blickt, kann einige Entwicklungen entdecken, die für diese These sprechen: Das Traditionsstudio Paramount hatte anders als andere sein fertig produziertes Sequel „Top Gun: Maverick“ nicht während der Lockdowns im Streaming versendet, sondern gewartet und den Film im Frühjahr ins Kino gebracht – und wurde mit Kinokasseneinnahmen von mehr als 1 Mrd. Dollar belohnt. Das Studio Warner Bros. hatte vor zwei Jahren mit seiner Ankündigung Schockwellen ausgesendet, als es die gesamte Filmproduktion des Jahres 2021 ohne vorherigen Kinostart in sein Streamingangebot HBO+ packen wollte. Dieses Jahr ist Warner wieder zur alten Praxis zurückgekehrt, nach der Filme zuerst im Kino und erst mit einem zeitlichen Abstand im Streaming verwertet werden. Studiochef David Zaslawski geißelte unlängst das Streaming-Geschäftsmodell mit den Worten: „Ausgeben, Ausgeben, Ausgeben und dann sehr wenig verlangen“.
Die Streaming-Revolution geht weiter
Gleichzeitig ist Streamingpionier Netflix an seine Grenzen geraten. Die Firma hat an der Börse dieses Jahr fast zwei Drittel an Wert verloren. Die Firma, die mittelfristig 400 Millionen Kunden erreichen wollte und von einem potenziellen Markt von 800 Millionen sprach, hat jetzt Mühe, ihre 220 Millionen Abonnenten bei der Stange zu halten. Zugleich spart sie beim Produktionsbudget und versucht demnächst (im Zuge der Etablierung eines werbefinanzierten Billigtarifs) Preiserhöhungen für das werbefreie Angebot durchzusetzen. All das macht die Lage für Netflix nicht einfacher.
Sicher, nach dem Ende der Pandemie-Ökonomie findet eine Korrektur statt. Doch niemand sollte glauben, dass die Streaming-Revolution stockt. Seit Anfang September läuft bei Amazon die fast eine halbe Milliarde Dollar teure Serie „The Rings of Power“ aus dem „Herr der Ringe“-Kosmos. Und Warner hat – bei aller wiedergefundenen Liebe zum Kino – sein 150 Mio. Dollar teures „Game of Thrones“-Prequel „House of the Dragon“ beim Streamingdienst HBO+ gestartet.
Der Eindruck täuscht: Die Schlacht findet nicht statt zwischen einem Kino, das zurückstrebt und dem Streaming, dem nach der Pandemie der Schwung abhandenkommt. Sie findet statt zwischen den Streamer-Disruptoren (Netflix, Amazon) und den traditionellen Hollywood-Playern. Für diese ist Streaming in der Coronazeit zu einem elementaren Teil ihres Geschäftsmodells geworden. Aber ihre anderen Erlösströme – wie das Kino – wollen sie sich unbedingt erhalten. Manche Analysten sehen jetzt in der Vielfalt der Erlösströme sogar eine Stärke gegenüber Netflix. Im August triumphierte der Disney-Konzern dann auch noch in einer Mitteilung über Netflix. Der Unterhaltungsriese, der das Kino nie aufgegeben hat, meldete, er habe Netflix bei der Zahl der Streamingkunden überholt. Zwar kommt der Mickey-Maus-Konzern auf diese Zahl nur, indem er Doppelkunden seiner verschiedenen Streamingangebote mitzählt und auch Länder mit extrem niedrigen Abogebühren wie Indien – aber symbolisch schien es doch.
Netflix macht Stars und schafft Mythen
Auch in Venedig war Streaming keinesfalls abgemeldet. Angefangen beim Eröffnungsfilm, Noah Baumbachs „White Noise“ mit Adam Driver und Greta Gerwig schickten Netflix und Amazon eine ganze Reihe von Produktionen in den Wettbewerb, die im Rahmen der Oscar-Saison noch lange Thema sein werden. Netflix‘ „Bardo“, der neue Film des dreimaligen Oscargewinners Alejandro Iñárritu gehört dazu. Und auch das neue Marilyn-Monroe-Biopic „Blonde“, das Andrew Dominik mit enormem Aufwand für Netflix realisierte. Der Film wirkt zwar überambitioniert und übergriffig in seiner Ausbeutung des Monroe-Mythos für eine saftige Selbstzerstörungsgeschichte. Aber die Kubanerin Ana de Armas in der Hauptrolle machte in Venedig dennoch so viel von sich reden, dass manch einer meinte „A star is born“.
Das nämlich kann Netflix längst so gut, wie früher nur die Studios: Stars machen, Mythen begründen, Legenden schaffen. Das alte Kino immerhin verlässt die Bühne nicht ohne aufzubegehren.