Als der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos am Wochenende den Goldenen Löwen des Filmfestivals in Venedig entgegennahm, da sprach er vor allem ausführlich darüber, wer nicht im Saal war: Emma Stone, die Bella Baxter spielt, die Hauptfigur einer in viktorianischen Zeiten angesiedelten furiosen Frankensteinfarce. Diese Bella Baxter, so Lanthimos, sei „eine unglaubliche Kreatur, die nicht ohne Emma Stone – ebenfalls eine unglaubliche Kreatur – existieren würde“. Umso bedauerlicher sei es, dass Stone nicht in Venedig sein könne, wegen des derzeitigen Streiks in Hollywood. Er hoffe, sagte Lanthimos, dass die Situation bald vorbei sei.
Ein Film braucht seine Stars, meinte der Regisseur. Wenn er einen großen Kinostart hinlegen will, ist er auf sie angewiesen. Und erst recht, wenn er Oscars gewinnen will.
Seit Jahren ist das Filmfest von Venedig der Auftakt der so genannten Oscar Season. Hier positionieren sie sich die Filme und Darsteller, über die in den kommenden Monaten in Hollywood geredet wird. Hierher kommen sie, um erste Stimmungen und Stimmen bei den Mitgliedern der US-Filmakademie zu sammeln. Dieses Jahr aber war das wegen des Hollywood-Streiks nur sehr eingeschränkt möglich. Die mächtige Schauspielergewerkschaft SAG-AFTRA, die im Juli zum Ausstand aufrief – und sich somit den seit Mai streikenden Drehbuchautoren anschloss –, hat den Streik auf alle Promotionauftritte, Interviews und Rote-Teppich-Termine ausgeweitet.
Somit blieb der Teppich vor dem Palazzo del Cinema auf dem Lido vor Venedig dieses Mal ungewohnt leer. Fotografen vor Ort mussten sich mit inaktiven Altstars wie George Clooney begnügen, der gar keinen Film auf dem Lido hatte. Zufall oder nicht, die Jury unter dem oscargekrönten Regisseur Damien Chazelle („La La Land“, „Whiplash“) gab die Darstellerpreise zwei Schauspielern, die mit einer Ausnahmeerlaubnis der Gewerkschaft kommen durften, weil ihre Filme von Independent-Produzenten verantwortet worden, nicht von den großen Studios: einerseits Peter Sarsgaard, der einen dementen New Yorker im Erinnerungsdrama „Memory“ spielt, andererseits Newcomerin Cailee Spaeny für ihre Darstellung von Priscilly Presley in Sofia Coppolas Biopic „Priscilla“.
Aus dem Oscar-Rennen genommen
In bester Tradition wollten ursprünglich Amazon und das von dem US-Internetkonzern gekaufte Hollywoodstudio MGM Venedig nutzen, um das Tennisdrama „Challenges“ mit Superstar Zendaya in der Hauptrolle für die Oscar Season und den für Herbst geplanten Publikumsstart (im Amazon-Streamingangebot und vereinzelt auch im Kino) zu positionieren. Ohne Zendaya als Zugpferd befanden die Verantwortlichen dann: keine Chance. Folglich wurde der Film als Eröffnungsfilm in Venedig gestrichen und der Start auf kommendes Jahr verschoben, was „Challenges“ aus dem Oscar-Rennen nimmt.
Das Verschiebungsschicksal teilt der Tennisfilm inzwischen mit einer Reihe von Filmen, weitere dürften folgen. Der wahrscheinlich größte Kinostart, der streikbedingt ins Wasser fällt, ist die Fortsetzung des Sci-Fi-Klassikers „Dune“. Das Studio Warner Bros. hatte für den Blockbuster, dessen Budget auf 125 Mio. Dollar geschätzt wird, einen großen Start im Herbst vorgesehen – jetzt soll er erst kommendes Frühjahr kommen. Wohlgemerkt, auch dieser Filmstart wurde nicht etwa deshalb gekippt, weil der Film nicht fertiggeworden wäre – sondern weil die Stars, in diesem Fall ebenfalls Zendaya sowie Timothée Chalamet, wie ihre Kollegen im PR-Streik sind. Es mag möglich sein, streikende Schauspieler durch nicht organisierte oder ausländische zu ersetzen – aber streikende Stars bei der Filmpromotion zu ersetzen ist kaum denkbar.
Schon versuchen sich Branchenvertreter das Unvorstellbare auszumalen: nicht nur leere rote Teppiche in Venedig, sondern eine gänzlich schauspielerfreie Awards-Season: Ohne Roundtables mit der Presse, ohne Events und dem Zwang für die Studios noch mehr Geld für Werbung in den Branchenmedien auszugeben. Weil so etwas schwer denkbar erscheint, haben die Verantwortlichen bereits die normalerweise im Herbst anstehende Vergabe des TV-Preises Emmy auf kommendes Jahr verschoben – in der Hoffnung, dass der Streik bis dahin vorbei ist.
Zuletzt enttäuschende Kinostarts
Die Probleme bekommt die US-Filmindustrie bereits jetzt schmerzlich zu spüren. Das Universal-Studio mit dem Hundefilm „Strays“ und Warner Bros. mit der Comicverfilmung „Blue Beetle“ erlebten in den USA Ende August enttäuschende Kinostarts. Die Abwesenheit von Starpromotion werde die Filme 10 bis 15 Prozent ihrer potenziellen Kasseneinnahmen kosten, schätzte Branchenanalyst David A. Gross gegenüber der „New York Times“. Für Filme, die nicht mit einem bereits bekannten Titel starteten – etwa, weil sie als Fortsetzung einer eingeführten Reihe kommen oder als Verfilmung einer geläufigen Geschichte – könnte der Effekt noch schlimmer sein, so Gross.
Dabei hatte Hollywood zu Beginn des Sommers eigentlich eine hoffnungsvolle Entwicklung erlebt. Der weltweite Erfolg von „Barbie“ und „Oppenheimer“ (in der Branche gern zusammengenommen als „Barbenheimer“) hatte die Erwartung genährt, die Filmindustrie könnte endlich den Corona-Einbruch hinter sich lassen. Doch trotz des „Barbenheimer“-Effekts lagen die Kinobesucherzahlen dieses Jahr im Sommer immer noch 14 Prozent unter dem Wert des letzten Vor-Corona-Jahres 2019. In Deutschland sieht es noch schlechter aus, hier sind es fast 16 Prozent im ersten Halbjahr.
Zum Glück für die Filmschaffenden – und auch für Festivals wie Venedig – war das bröckelnde und nur zögerlich rekonvaleszente Kino freilich in den letzten Jahren von einer anderen Entwicklung überlagert worden: Vom Streaming-Boom. Der Kampf der Pioniere Netflix, Amazon und Apple einerseits mit den im Streaminggeschäft Anschluss suchenden Studios Disney, Warner und Paramount sowie andererseits um Abo-Marktanteile hatte dazu geführt, dass die Ausgaben für Produktionen jedes Jahr schneller nach oben geschraubt wurden. Seit vor fünf Jahren die Netflix-Produktion „Roma“ den Goldenen Löwen von Venedig und einen Oscar gewann, hatten die Streamer das Geld auch dafür ausgegeben, mit renommierten Filmpreisen Aufmerksamkeit einzuheimsen. Besonders Venedig hat davon profitiert: Kein großes Festival hat sich so offen gegenüber Streamingproduktionen gezeigt wie die Italiener.
Streaming-Pioniere investieren weniger
Doch diese Zeiten sind vorbei. Der Verdrängungswettkampf hat sich sowohl für Netflix als auch für die Studios Disney und Warner als viel zu kostspielig erwiesen. Die Investoren an der Wall Street machen seit vergangenem Jahr Druck. Netflix setzte schon 2022 20 Produktionen ab, der Warner-Abosender HBO sogar 35. „Investoren und Manager haben festgestellt, dass Streaming kein gutes Geschäft mehr ermöglicht“, urteilten trocken die Analysten von Moffet Nathanson. In diesem Jahr werden laut Branchenzahlen zwar die Ausgaben für Streaming-Produktionen noch gestiegen sein – aber viel langsamer als im Vorjahr. Und 2024 dürfte das Wachstum ganz aufhören. Netflix verabschiedete im Frühjahr seine ausgabefreudige Produktionschefin Lisa Nishimura. „Netflix ist offiziell in die Ära der Sparsamkeit eingetreten“, bilanzierte der „Hollywood Reporter“.
Die Zeichen stehen auf Konsolidierung. Diese beschleunigt sich umso mehr, seit Disney von Expansion auf Sparprogramm umgeschaltet hat. Im zweiten Quartal meldete der Konzern einen Verlust von 512 Mio. Dollar im Streaminggeschäft, seit dem aggressiven Start mit Disney+ im Jahr 2019 hat der Konzern rund 11 Mrd. Dollar in den Wettkampf mit Netflix & Co. investiert. Ähnlich wie Netflix fährt Disney eine Doppelstrategie: kontinuierliche Preiserhöhungen für das werbefreie Angebot, gleichzeitig ein zusätzliches Angebot mit Werbespots. Jetzt aber merken die Kunden, dass der Strom der neuen Filme und Serien dünner wird – und kündigen ihre Abos oder schließen keine neuen ab. US-Branchenzahlen aus dem Juni zeigen, dass die Amerikaner die Zahl ihrer Streamingdienste gegenüber dem Vorjahr bereits reduziert haben.
Hollywood gibt nicht nach
Konsolidierungszwang und das nur verhaltene Wiedererstehen des Kinogeschäfts dürften auch die Gründe sein, warum der Hollywood-Studioverband AMPTP – auch Netflix und Amazon sind hier Mitglied – so hartleibig auf die Forderungen der Streikenden reagiert. Vor einem Jahr wären sie vielleicht noch auf etwas offenere Ohren gestoßen. Die Schauspieler und Drehbuchautoren wollen nicht nur mehr Geld. Sie wollen auch stärker an länger laufenden Streamings ihrer Produkte beteiligt werden. Und sie wollen Gewähr, dass die Studios nicht künftig ohne Vergütung KI-Avatare ihrer Figuren bauen können, um mit virtuellen statt lebendigen Darstellen zu arbeiten.
Die Flaute wird sich bald auch auf den großen Festivals und bei den Oscar-Kandidaten bemerkbar machen. Denn es wird nicht nur weniger für Streaming produziert. Netflix und Co. verschieben auch den Schwerpunkt dessen, was sie produzieren: weniger oscar- und filmpreisträchtige Renommierproduktionen – und mehr solche, die die Kundschaft in Abos lockt. Also Serien, vorzugsweise Fortsetzungen und mit Stars – falls Stars irgendwann einmal wieder verfügbar sind.
Venedig konnte dieses Jahr noch fast wie zuvor von einem Fluß der Streamingproduktionen profitieren, wenn man mal die „Challenges“-Absage beiseite lässt. David Finchers Auftragsmörderthriller „The Killer“ mit Michael Fassbender (aber ohne ihn am Lido), Wes Andersons Roald-Dahl-Verfilmung „The Wonderful Story of Henry Sugar“, die chilenische Satire „Il Conde“ über den Diktator Augusto Pinochet sowie „Maestro“, das Biopic über den Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein – sie liefen alle hier.
„Maestro“-Hauptdarsteller Bradley Cooper wurde sogar von Spähern in Venedig gesichtet, er hätte auch auftreten dürfen, in seiner Rolle als Regisseur nämlich. Aber Cooper hätte sich womöglich den Vorwurf mangelnder Solidarität zugezogen. Also tauchte er auf dem Festivalgelände nicht auf. Er hätte lediglich letzte Abstimmungen für den Film vorgenommen, hieß es später.