Beim Festival in Venedig wurden am Wochenende Filme ausgezeichnet, die zeigen, wohin die Reise geht in der Kinoindustrie. Der Gewinner des goldenen Löwen führt zurück ins Frankreich der 1960er-Jahre. „L’Évènement“ der Regisseurin Audrey Diwan zeigt den Weg einer Studentin im damaligen Angoulême, die ungewollt schwanger wird. Klassisches Kino also, ein verfilmter Roman, chronologisch erzählt, mit präzise sich zurücknehmenden Darstellerinnen und liebevoller Ausstattung in Szene gesetzt.
Die hat der zweite Film, der einen Hauptpreis gewann, auch zu bieten: Oscargewinner Paolo Sorrentino geht in „Die Hand Gottes“ („È stata la mano di Dio“) rund 35 Jahre zurück und knüpft selbst auch an die goldenen Zeiten des Kinos an. In seinem in warmes Abendlicht getauchten melancholischen Rückblick zeigt er etwa Dreharbeiten in der historischen Galleria Umberto I. in Neapel um noch einmal dazu zurückzukehren, wie er selbst zum Film kam.
Sorrentinos eigener Film freilich wird – mit vereinzelten Ausnahmen in Italien – gar nicht im Kino zu sehen sein, er hat ihn für den Streaminganbieter Netflix gedreht. Es ist mit dem Kino wie überall: Erst wenn etwas verschwindet, erleben die nostalgischen Rückblicke darauf eine Inflation.
Streaming verändert alles
Die Streaming-Revolution und die Pandemie sind die größten Veränderungsimpulse des Kinos seit Jahrzehnten. Monatelang, in manchen Ländern zusammengerechnet mehr als ein Jahr, waren die Kinos zu. Man kann nicht oft genug daran erinnern, dass Hollywood und alles, was damit verbunden ist, vor gut 100 Jahren erst infolge einer Pandemie entstanden ist: der Spanischen Grippe. Paramount-Mitgründer Adolph Zukor kaufte en gros die infolge der Zwangsschließungen notleidenden Kinos auf, andere Studios folgten. Erstmals beherrschte eine Industrie von der künstlerischen Produktion bis zur kommerziellen Verwertung die ganze Kette.
Dieses Mal ist es das Streaming, was die Verhältnisse verändert. Netflix und Amazon hatten schon Jahre vor Corona begonnen, eigene Produktionen zu streamen und Talente an sich zu binden. Aber seit in der Pandemie die Menschen aus fast allen Altersgruppen und Milieus in Massen zu Hause saßen und streamten ist die alte Verwertungskette im Kinogeschäft endgültig zerschossen. Auch die Hollywood-Studios wie Disney und Warner sehen jetzt Streaming als ihr Hauptgeschäft und nicht mehr das Kino als Ausgangspunkt beim Kampf um die Zuschauer. Selbst, wenn jetzt die Kinos wieder auf sind und die Zuschauer hineinströmen. So wie vorher wird es nicht mehr sein. Weniger Filme werden auf diesem Wege zu den Zuschauern kommen. Und andere Filme.
Das war in Venedig erstmals so konzentriert zu besichtigen. Die Erzählformen, die auf den Streamingportalen erfolgreich sind, scheinen sich durchzusetzen.
Wenn die Auswahl des Festivals einigermaßen repräsentativ ist, dann passieren zwei Dinge: Mehr Filme knüpfen an Bekanntes an: An historische Ereignisse, die kollektive Erinnerung, sie verfilmen erfolgreiche Bücher oder kommen gleich als Remake daher, wie die 165-Mio.-Dollar-Neuauflage des Science-Fiction-Klassikers „Dune“, die in Venedig gezeigt wurde und danach (jedenfalls in Amerika) sofort ins Streaming geht. Bei solchen Großproduktionen, auf die sich die führenden Studios konzentrieren, ist es schon seit längerem so, dass fast nur noch „Franchises“ entstehen, also eingeführte Marken wie „Star Wars“ immer weiter und tiefer ausgepresst werden.
Der Kampf um die Zuschauer ist mörderisch geworden
Im Streaming ist es auch so, dass ehemals erfolgreiche Filme als Serie wiederkehren: „Fargo“, „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“, „Das Boot“. Jetzt hatte in Venedig die Neuauflage von Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ Premiere. HBO, das Streamingportal des Warner-Konzerns hat sie mit viel Aufwand und Jessica Chastain sowie Oscar Isaac unter dem Titel „Scenes from A Marriage“ inszeniert. Das Publikum lässt sich leichter für etwas irgendwie schon bekannt Geglaubtes begeistern als für einen originären Stoff.
Ebenso setzen Regisseure und Produzenten viel stärker auf Tempo und klassische, etwa chronologische Erzählstrukturen. Störungen und Längen führen im Streaming zur sofort messbaren Zuschauerflucht, während sich ein an den Kinosessel gefesseltes Publikum darauf womöglich stärker einlassen würde. Der Kampf um die Aufmerksamkeit ist im Streamingzeitalter mörderisch geworden, weil Zuschauenden sofort alle Alternativen nur wenige Klicks entfernt zur Verfügung stehen.

Unter diesen Bedingungen hat sich das Festival in Venedig die besten Ausgangsbedingungen verschafft im ewigen Vergleich mit seinen Pendants in Cannes und Berlin. Venedig fand trotz Corona 2020 und 2021 statt und hat seine Position als großer Showcase für die Oscar-Saison in diesem Jahr noch gefestigt. Ein halbes Dutzend Filme, die bei den Filmpreisen in Los Angeles im März in die engere Auswahl kommen dürften, war hier präsent: Neben „Dune“ etwa „The Lost Daughter“ von Maggie Gyllenhaal, „The Power of A Dog“ von Jane Campion, „The Card Counter“ von Paul Schrader oder das Charles-und-Diana-Drama „Spencer“ von Pablo Larraín.
Die Faszination für den Film ist ungebrochen
Cannes ist 2020 ausgefallen und kam 2021 mit einem prall gefüllten und hochkarätigen Programm zurück, leidet aber unter der strikten Ablehnung jeglicher Streaming-Produktionen. Damit schneidet man sich von vielen Entwicklungen beim Film ab. Die Berlinale schließlich konnte in diesem März nur virtuell und mit reduziertem Programm stattfinden und daher ihren Vorteil als Publikumsfest nicht mehr ausspielen. Wenn die Verantwortlichen nicht aufpassen, könnte sie ihre Attraktivität für größere Produktionen weiter verlieren.
Die schlimmsten Befürchtungen aus der Corona-Zeit haben sich aber nicht bestätigt – dass das Kino nach seiner langen Absenz nur noch wenige begeistern würde. Vor dem Premierenpalast auf dem Lido di Venezia war dieses Jahr wie letztes Jahr eine große Sichtschutzwand aufgebaut – um allzu große Menschenansammlungen in der Pandemie am roten Teppich zu verhindern. Doch am einzigen Schlitz in dieser Wand versammelte sich erst recht eine Menschentraube. Dieser Zauber ist ungebrochen.

Kennen Sie schon unseren Newsletter „Die Woche“ ? Jeden Freitag in ihrem Postfach – wenn Sie wollen. Hier können Sie sich anmelden