Christine Lagarde hat als IWF-Chefin und französische Finanzministerin schon allerhand Krisen durchgestanden. Doch in ihrem neuen Amt als Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) steht sie nun vor ihrer ersten Herausforderung. Der Ausbruch der Corona-Pandemie und wachsende Rezessionsängste haben enormen Druck auf die Euro-Notenbank zur Lockerung der Geldpolitik aufgebaut. Lagarde und die übrigen Ratsmitglieder sollten dem Druck jedoch wiederstehen und sich darauf konzentrieren die Banken liquide zu halten.
Das Coronavirus hat die bisherige Kommunikationsstrategie Lagardes seit ihrem Amtsantritt im November zunichte gemacht. Nachdem ihr Vorgänger Mario Draghi kurz vor dem Ruhestand noch einmal ein großes Lockerungspaket durchgeboxt hatte, startete die Französin mit einer Politik der ruhigen Hand. Sie sprach lieber über Nachhaltigkeit als über Zinserwartungen und setzte darauf, bis zur Einigung im Rat über eine neue Strategie im Lauf des Jahres nicht handeln zu müssen.
Doch mit der Corona-Krise ist der Handlungsdruck in kürzester Zeit quasi von null auf 100 gestiegen. Die Notzinssenkungen um jeweils 50 Basispunkte der Federal Reserve in der vergangenen Woche und der Bank of England am heutigen Mittwoch haben den Druck massiv erhöht, dass auch die EZB handelt. Die Markterwartungen sind ebenfalls heiß gelaufen und haben eine Lockerung der Geldpolitik teilweise schon eingepreist. Deshalb sollten Anleger nicht damit rechnen, dass die Bekanntgabe einer Lockerung am Donnerstag eine starke Marktreaktion zur Folge hat. Die geldpolitischen Entscheidungen werden morgen um 13.45 Uhr veröffentlicht, Lagarde wird diese in einer Pressekonferenz ab 14.30 Uhr erläutern.
Für Spannung ist also wie lange nicht mehr vor einer EZB-Ratssitzung gesorgt. Es gab keine Andeutungen, während unter Draghi die geldpolitischen Schritte meist im Vorhinein „aus Kreisen“ kommuniziert wurden. Es ist also vollkommen offen, was Lagarde morgen mitteilen wird. Allerdings gibt es fünf gute Gründe, warum die EZB dem von Märkten und anderen Notenbanken aufgebauten Handlungsdruck widerstehen sollte.
Das wichtigste Argument lautet ganz einfach: Sinkende Zinsen helfen nicht die Folgen der Corona-Pandemie zu beheben. Wenn Lieferketten unterbrochen sind, Fußballspiele ausfallen und die Menschen sich nicht mehr zum Einkaufen vor die Tür trauen, dann helfen niedrigere Zinsen auch nicht weiter. Ökonomen sprechen von einem Angebotsschock durch Corona, dem mit der zinsseitigen Stimulierung der Nachfrage nach Maschinen, Bauleistungen oder Smartphones nicht beizukommen ist.
Das zweite Argument zielt auf die Banken . In der aktuellen Situation spielen sie tatsächlich eine wichtige Rolle: Sie müssen weiter Kredite vergeben und Kreditlinien aufrechterhalten können, damit Liquiditätsengpässe bei Unternehmen und Händlern nicht zu Pleiten führen. Eine Zinssenkung hieße jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach, dass der Einlagensatz für Banken, der aktuell bei minus 0,5 Prozent liegt, noch tiefer in den roten Bereich sinkt. Doch wenn Banken noch mehr dafür bezahlen müssen, ihre eigenen Liquiditätsreserven bei der EZB kurzfristig zu parken, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie mehr Kredite vergeben. Außerdem würde ein solcher Schritt dazu führen, dass die Banken noch weniger verdienen. Doch unprofitable Banken vergeben weniger Kredite und werden zum Risiko für die Finanzstabilität.
Drittens würde eine Zinssenkung wohl den Euro schwächen. Doch die Gemeinschaftswährung benötigt keine Schwächung, sie wird trotz der jüngsten Erholung noch immer deutlich unter ihrem als fair betrachteten Wert gehandelt, der irgendwo in der Mitte des 1,20er-Dollar-Bereichs liegen dürfte. Auch das Argument, ein teurer Euro würde die Exportwirtschaft treffen, zählt nicht. Abgesehen davon, dass sich deutsche Autohersteller ohnehin gegen Währungsschwankungen absichern, haben die Exporteure in der Eurozone ganz andere Sorgen in Zeiten unterbrochener Lieferketten und einer sich beschleunigenden De-Globalisierung.
Dieser Trend könnte, wie die gesamte Corona-Pandemie am Ende sogar inflationär wirken. Natürlich werden derzeit Flüge verramscht und Autohersteller werden schon bald versuchen, mit Rabattaktionen die Kunden zu locken. Doch langfristig könnte sich der Trend umkehren, der die vergangenen Jahrzehnte prägte: Die internationale Arbeitsteilung hat die Inflation seit Jahrzehnten gedrückt – übrigens ist dies auch ein Hauptgrund für weltweit niedrigen Zinsen. Doch wenn sich in einer de-globalisierten Welt wieder nationale Monopole bilden oder die Unternehmen zumindest in kleinen Stückzahlen für lokale Märkte produzieren müssen, dann spricht dies für höhere Inflationsraten. Also viertens: Gegen solch einen Trend senkt man nicht die Zinsen.
Denn, und das ist der fünfte Grund gegen Zinssenkungen: Das Mandat der EZB ist es nicht, für florierende Kapitalmärkte zu sorgen – ebenso wenig wie es ihre Aufgabe ist, deutsche Sparer mit Zinsen zu verwöhnen. Aufgabe der Notenbank der Eurozone ist Geldwertstabilität und seit der globalen Finanzkrise auch die Sicherung der Finanzstabilität. Beides ist aktuell nicht in Gefahr und, anders als die Federal Reserve in den USA, hat die EZB bisher kein Mandat dazu die Konjunktur anzukurbeln. Und wenn gerade Banken-Volkswirte in diesen Tagen für ein „Privat Asset QE“ werben, dann drängt sich der Verdacht auf, dass die Häuser gern so einiges an Wertpapieren aus ihren Büchern bei der Notenbank abladen möchten.
Eine geldpolitische Reaktion der EZB wäre erst dann nötig, wenn die Inflationserwartungen deutlich fallen, sich also in der Sprache der Notenbanker „entankern“. Heute veröffentlichte Prognosen des Verbandes öffentlicher Banken (VÖB) in Deutschland deuten darauf nicht hin. Die sechs beteiligten Institute rechnen mit Sicht von zwölf Monaten mit einer Inflationsrate von 1,2 bis 1,5 Prozent in der Eurozone. „Wir sind zuversichtlich, dass ein Abebben der Epidemie auch zur Erholung der Wirtschaft führen wird“, erklären die beteiligten Volkswirte.
Handlungsfähigkeit sollte die EZB allerdings in einem Bereich doch zeigen, nämlich die Liquiditätsversorgung der Banken zu garantieren. Es ist für das Wachstum und damit den Wohlstand wichtig, dass die Institute mit dem Abklingen der Pandemie sofort wieder Kredite vergeben können und nicht kränkeln. Helfen können dabei einige temporäre regulatorische Erleichterungen wie geringere Kapitalanforderungen. Ansonsten sollte Lagarde ein kraftvolles Zeichen – ein „What ever it takes“ – aussenden, dass die EZB die Banken in jedem Fall flüssig halten wird. Damit wäre es auch gut.
Corona ist nicht die Aufgabe der Notenbanken, es ist die Stunde der Politik. Im Kleinen wie im Großen. Sie muss Orientierung geben, wie Deutschland mit Massenveranstaltungen umgeht und dafür sorgen, Infrastruktur und Gesundheitswesen in diesen kritischen Wochen am Laufen zu halten. Geld ist dafür vorhanden, viele Länder haben sich einen Puffer aufgebaut. Das gibt den Regierungen auch die Möglichkeit, die Konjunktur anzuschieben, sobald die Pandemie abebbt. Aber bitte nicht die üblichen Straßenbau-Projekte, mit denen sich Politiker in ihren Wahlkreisen beliebt zu machen versuchen.
Corona bietet nämlich die Chance, in Deutschland endlich eine funktionierende und zeitgemäße digitale Infrastruktur aufzubauen. Der Bedarf ist groß, Geld ist vorhanden und solch ein Schritt schafft direkt Nachfrage und mittel- bis langfristige bessere Wachstumsaussichten. Hallo Berlin, packt diese große Herausforderung an.